16. Januar 2018, 13:03 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
In Berlin gibt es Orte, an dem Menschen mit wenig Zeit viel Geld dafür bezahlen, zu harten Beats im Dunkeln alles, wirklich alles aus sich herauszuholen. FITBOOK hat die Workout-Party auf dem Bike ausprobiert.
Spinning – oder Indoor Cycling – hat sich in den 70er- und 80er-Jahren aus dem Ergometertraining heraus entwickelt, das zur medizinischen Leistungsüberwachung genutzt wurde. Seitdem kam das supereffektive Herz-Kreislauf-Training auf stationären Spin Bikes (so werden die Räder genannt) nie wirklich aus der Mode. Richtig mitreißend sieht irgendwie trotzdem anders aus.
Schweißpfützen im Neonlicht
Bestätigen kann das jeder, der schon mal einen Spinningkurs im Fitnessstudio besucht hat: Es läuft so ab, dass man vor einer gnadenlos vollverspiegelten Wand auf Ansage fiktive Bergetappen fährt und jeder Teilnehmer unter sich eine Schweißpfütze bildet. Diese Schweißpfützen vereinen sich gegen Ende des Kurses zu einem großen Schweißsee. Verausgaben im Neonlicht, da kommt schnell ein unangenehmes Schamgefühl auf. Dem Ganzen haftet deswegen das Bild an, dass Spinning eine lästige Pflicht ist – und man es besser schnell hinter sich bringt.
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Zum Glück hat jemand das Setting geändert!
Gut, dass jemand auf die Idee kam, dem Ganzen einen neuen Anstrich zu verpassen: Spinning in bis um 90 Prozent abgedunkelten Räumen mit Discokugel, Clubatmosphäre statt Fitnessstudio. „Soul Cycling“, „Disco Cycling“ oder „Clubbing on Wheels“ heißt der Trend, der 2006 in den USA aufpoppte und inzwischen auch bei uns angekommen ist.
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Das erste Studio dieser Art in Deutschland eröffneten 2016 die Berliner Schulfreunde Till Trilling und Kirill Pronine. Seit November gibt es „ride.bln“ an zwei Standorten in der Hauptstadt: im Bezirk Mitte und in Charlottenburg in KuDamm-Nähe. Ihre Mission: Spinning vom Ruf der Schinderei in grellen Räumen zu befreien. „Die Leute sollen reinkommen, den Kopf abschalten und Spaß haben!“, sagt Trilling. Wie ein Clubbesuch auf dem Rad eben – „Fullbody-Cycling“ haben sie ihr Konzept getauft.
Das ist anders beim Fullbody-Cycling
Die 50-minütigen, extrem effektiven „rides“ im Dunkeln sind auf maximale Fettverbrennung angelegt und trainieren gleichermaßen Kraft, Ausdauer, Balance und Beweglichkeit. „Im Unterschied zum normalen Indoor Cycling arbeiten wir mit dem gesamten Körper“, sagt Johanna Oevermann (31), die lange als Spinning-Ausbilderin tätig war und das sportliche Konzept von „ride berlin“ entwickelt hat. „Wir lösen die Hände vom Lenker, um beispielsweise die Koordination zu trainieren – im klassischen Spinning ein No-Go“, sagt die Sportwissenschaftlerin. Das spricht insbesondere die Stütz- und Haltemuskulatur an, die beim normalen Spinning keine Rolle spielt.
Des Weiteren unterscheidet sich der Trittfrequenz-Bereich: „Bei uns werden 150-160 Beats per Minute (BPM) getreten“, sagt Johanna Oevermann. Deutlich mehr als beim klassischen Spinning, was nicht nur höhere Herzfrequenzwerte, sondern auch eine stärkere Fettverbrennung bedeutet. Ganz klar: Fullbody-Cycling ist eine Form des sogenannten „High-Intensity Interval Training“ (HIIT) – und eine harte noch dazu.
Letztlich handelt es sich um eine sehr effektive Form des Intervalltrainings, also des ständigen Wechsels zwischen Be- und Entlastung. Allerdings mit besonderer Dynamik, denn beim FullbodyCycling wird der Flow einzig durch die Musik erreicht: „Wir nutzen den Beat, um die Intensität zu steuern. Bestimmte Techniken werden in bestimmten Frequenzen gefahren – da ist es wichtig, dass die Lieder einfach passen“, erklärt Johanna. Die 32-Jährige schaut sich daher die Playlists ihrer Trainer ganz genau an.
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Neben dem Einsatz des ganzen Körpers, der Rhythmisierung und der Beweglichkeit kommt die Dunkelheit dazu: Sie soll das Abschalten und den Fokus auf den eigenen Körper und die Atmung erleichtern. Kein Vergleichen mit den anderen über einen Spiegel.
Der letzte Punkt könnte es verwundern, bedenkt man, dass die Menschen sich gegenseitig nicht sehen können: „Indoor Cycling ist ICH, Fullbody-Cycling ist WIR“, erklärt die Sportwissenschaftlerin. „Manche singen, tanzen, schreien – das hängt ganz von der Konstellation der Gruppe ab.“ Höchste Zeit für einen Test.
Was Fullbody-Cycling so effektiv macht
Punkt 1: die Zeitersparnis. Indoor Cycling in allen Varianten bietet die Möglichkeit, das Maximale aus dem Training herauszuholen. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule in Köln. „Wenn ich drinnen 60 Minuten fahre, habe ich 60 Minuten Belastung. Wenn ich draußen fahre, habe ich vielleicht nur 60 Prozent Belastung, den Rest rolle ich.“
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Punkt 2: der hohe Kalorienverbrauch. Johanna Oevermann kann beeindruckende Zahlen liefern: „Wir haben für die 50-minütige Session schon alles zwischen 420 und 930kcal gemessen.“ Es weiter zu differenzieren, sei schwer – schließlich entscheide die Muskelmasse über den Kalorienverbrauch. Aber: „Selbst für den absoluten Beginner, der zum ersten Mal kommt und untrainiert ist, sind 400 Kalorien auf jeden Fall drin“, versichert die Expertin. Das ist eine Menge!
Meine Workout-Party auf dem Rad
Der Trainingsraum kommt meiner Vorstellung eines Darkroom nahe: niedrige Decken, schwarz ausgekleidet, keine Spiegel. Vorne ist ein Podest, auf dem zwei Kerzen flackern und das Augenmerk auf den „Altar“ des Trainers mit DJ-Pult und Bike lenken sollen. Dort hat Fabi (27) Platz genommen. Typ null Körperfett, Multitalent im Lächeln und nach eigener Aussage „total sportsüchtig“.
Der Schweiß fließt nach wenigen Minuten
Wer, wenn nicht er schafft es, dass ich in den nächsten 50 Minuten – so lange dauert ein Ride – 500 bis 700 Kalorien verbrenne? Fabi legt einen energetischen Justin-Bieber-Track auf und weiß genau, wann er Aufforderungen wie „Ignoriere die Stimme in deinem Kopf, das macht keinen SINN!“ brüllen muss, um mich zu pushen. Guter Mann. Schon nach wenigen Minuten fließt der Schweiß. Und genau dafür ist das Zielpublikum – harter Job und wenig Zeit – schließlich hier.
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Der Reiz von Beats und Dunkelheit zeigt Wirkung
Warm-up, Einsatz von Hanteln, Cool-down – eine runde Sache. Schweißorgie und vereinzelte Stöhner werden diskret geschluckt (danke Dunkelheit, danke sensationeller Sound). Ebenso bleibt dem Instructor verborgen, wenn ich den Widerstand lockere – und davon habe ich tatsächlich weit weniger Gebrauch gemacht als gedacht. Denn der Reiz von harten Beats und Clubatmosphäre zeigt Wirkung: Im Dunkeln fällt es tatsächlich leichter, sich beim Workout hemmungslos auszupowern und dabei auch noch Spaß zu haben. Tatsächlich hat man keine Zeit, darüber nachzudenken, wie anstrengend es ist.
Knackpunkt: Der Preis
Eine 50-minütige Workout-Party auf dem Rad bei „ride.bln“ kostet 26 Euro und frisst damit fast die Hälfte meines Monatsbeitrags im Fitnessstudio. Zehnerkarten sind etwas günstiger. Dafür gibt es bei „ride.bln“ keinerlei Vertragsbindung, man bezahlt nur, wenn man kommt. Es gibt keine Mindestteilnehmerzahl für die Kurse – gefahren wird auch mit einer Person.
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Dazu gibt’s ein bisschen mehr Service als im Gym: Das von mir online reservierte Bike wird vor meinem Besuch auf meine Position eingestellt, passende Schuhe stehen bereit, ebenso eine Flasche Wasser, Handtücher, eine geräumige Dusche und Pflegeprodukte. Alles, was man braucht, um danach wieder tiptop im Büro zu erscheinen.
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Für wen Fullbody-Cycling was ist – und für wen nicht
Sie wollen sich fordern, das Letzte aus sich herausholen – fühlen sich im hell erleuchteten Raum vor allen Leuten aber unwohl (und haben das nötige Kleingeld)? Dann nichts wie hin! Der Nachbrenneffekt bei einem solchen Intervalltraining ist enorm! Das Workout bietet die Möglichkeit, sein Fitnesslevel deutlich zu steigern. Und durch die Dunkelheit ist auch Scham kein Thema mehr! Sie stellt außerdem sicher, dass der Fokus nicht auf den anderen Teilnehmern und deren Ausdauerniveau liegt.
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Tabu ist das hochintensive Intervalltraining für Menschen, die körperlich eingeschränkt sind, insbesondere solche, die Probleme mit dem Herzen haben. Im Zweifel lieber erst den Arzt aufsuchen. Hingegen seien ein niedriges Fitnesslevel oder Übergewicht kein Hindernis: „Für den Start bietet sich unsere Intro-Rides, da ist das Tempo deutlich reduziert.“, so Oevermann.
Jedoch gilt: Da es im Trainingsraum sehr dunkel ist, kann der Trainer nicht unbedingt immer erkennen, wie sich jeder Teilnehmer fühlt. Ob er volle Power fährt oder nur so tut? „Die Trainer sind zwar darauf geschult, Erschöpfungszeichen zu erkennen und durch Blickkontakt (so gut es geht) abzufragen“, sagt Johanna Oevermann. „Letztlich muss aber jeder erstmal in sich reinhören.“ Vorsicht: Bei den hohen Trittfrequenzen kann es passieren, dass man aus dem Takt kommt, die Füße von alleine weiterfahren und man die Knie unangenehm verdreht. Dieses Verletzungsrisiko soll mit einem speziellen Rennrad-Klicksystem entkräftet werden.
Lust bekommen, es auch mal auszuprobieren? ride.bln Schützenstraße 70 und Lietzenburger Straße 86 (Berlin)