3. Juni 2021, 22:16 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
In der Corona-Pandemie sind Forscher nicht mehr unter sich. Hypothesen wie die zu den seltenen Hirnthrombosen schaffen es oft schon früh in die Öffentlichkeit. Für den Laien wird es dann komplex.
Warum verursachen Corona-Impfstoffe wie Vaxzevria von Astrazeneca in sehr seltenen Fällen Hirnthrombosen? Dazu kursieren verschiedene Hypothesen, eine eindeutige Antwort gibt es noch nicht. „So funktioniert Forschung“, sagt Carsten Watzl, der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
„Es gibt ein Problem. Dann werden Theorien aufgestellt. Die muss man dann prüfen und am Ende sehen, was davon übrig bleibt.“ Die Corona-Pandemie hat solche Diskussionen in die Öffentlichkeit geholt – das Interesse ist gewaltig. Laien können dadurch dabei sein, wie sich Fachleute einem Problem nähern. Das kann spannend, aber auch verwirrend sein, wie das Vaxzevria-Beispiel zeigt.
Übersicht
Die Ausgangslage
Der Corona-Impfstoff von Astrazeneca führt in sehr seltenen Fällen zu Hirnthrombosen. Es geht es um das „Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom“ (TTS), bei dem es zu Blutgerinnseln mit gleichzeitig niedrigem Blutplättchenspiegel kommt. Dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wurden bei rund 8,5 Millionen verabreichten Impfdosen bis 25. Mai 94 Fälle von TTS in Deutschland gemeldet, 17 Menschen starben. Zwei Drittel der Betroffenen sind jünger als 60. Deshalb ist der Impfstoff für Menschen unter 60 nicht mehr empfohlen. Das Gleiche gilt für das Mittel von Johnson & Johnson, nachdem in den USA Thrombose-Fälle aufgetreten sind. In Deutschland gibt es laut PEI bislang noch keine TTS-Meldungen bei Johnson & Johnson, allerdings wurden bei uns bislang vergleichsweise wenig Dosen des Impfstoffs verabreicht.
Auch interessant: Wie gefährlich ist ein „Covid-Arm“?
Warum kommt es bei manchen Corona-Impfstoffen zu Hirnthrombosen?
Hypothese 1
Zunächst war völlig unklar, warum die Impfungen zum Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom führen können. Auffällig war, dass die Nebenwirkungen bei den beiden zugelassenen mRNA-Impfstoffen nicht vermehrt vorkommen, sondern nur bei den Vektorimpfstoffen von Astrazeneca und Johnson & Johnson. Als einer der ersten stellte Andreas Greinacher von der Universitätsmedizin Greifswald eine Theorie vor.
Demnach scheinen bestimmte Bestandteile des Vektorimpfstoffs an das Protein „Plättchenfaktor 4“ zu binden, das auf der Oberfläche der Blutplättchen (Thrombozyten) sitzt. An diesen Komplex können bestimmte fehlgeleitete Antikörper binden, die als Folge einer durch die Impfung ausgelösten Entzündungsreaktion im Körper unterwegs sind. Diese Verbindungen führen dazu, dass die Blutplättchen verklumpen. Es entstehen Blutgerinnsel (Thrombosen) im Gehirn mit einem gleichzeitigen Mangel an freien Blutplättchen (Thrombozytopenie).
Hypothese 2
Am 26. Mai stellte eine Gruppe um Rolf Marschalek von der Goethe-Uni in Frankfurt in einer noch nicht von Fachexperten begutachteten Studie eine weitere Hypothese vor.1 Grob zusammengefasst geht sie davon aus, dass es bei der Reaktion der menschlichen Zellen auf den Impfstoff zu Komplikationen kommt. Die Vektorimpfstoffe enthalten wie die mRNA-Impfstoffe auch Viren-Erbgut – wenn auch in anderer Form. Mit diesen Erbgut-Abschnitten sollen die menschlichen Zellen dann das sogenannte Spike-Protein des Virus herstellen und an ihrer Oberfläche präsentieren. Das löst dann eine Immunantwort aus, die uns vor eine Corona-Infektion schützen soll.
Bei der beschriebenen Komplikation – die so bei mRNA-Impfstoffen gar nicht möglich wäre – bleibt das Virus-Protein aber nicht an die Zelle gebunden, sondern schafft es in den Blutkreislauf. Dort kann es an die Wand der Blutgefäße binden, eine Entzündungsreaktion hervorrufen und so zur Entstehung von TTS beitragen.
Marschalek und sein Team glauben, dass der Vektorimpfstoff so angepasst werden kann, dass die Komplikation bei der Verarbeitung des Impfstoffs unterbunden wird. „Ja, das ist wahrscheinlich möglich“, sagt dazu Immunologe Watzl. „Ob das dann aber auch tatsächlich die Nebenwirkung verhindert, müsste man sehen.“
Widersprechen sich beide Hypothesen?
Die verschiedenen Hypothesen müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. „Vermutlich ist die tatsächliche Ursache eine Kombination der bisherigen Theorien. Eine allein kann TTS bislang nicht erklären“, sagt Watzl. Auch Greinacher hält es für möglich, dass beide Effekte eine Rolle spielen. So könnten die löslichen Spike-Proteine aus der Marschalek-Hypothese möglicherweise erst dann zum Problem werden, wenn es gleichzeitig die fehlgeleiteten Antikörper aus der Greinacher-Theorie gibt. Bislang ließen sich die Hypothesen aber nur schwer überprüfen, meint Watzl. Es gebe noch kein Tiermodell und Tests mit einem veränderten Impfstoff würden Hunderttausende Probanden erfordern, da die TTS so selten seien.
Auch interessant: Kann ich nach meiner Corona-Impfung mit Alkohol anstoßen?
Welche Rolle spielen Verunreinigungen durch Proteine?
Ein weiteres Puzzle-Stück sind Verunreinigungen durch Proteine, die Ulmer Forscher im Astrazeneca-Impfstoff gefunden haben.2 Wobei solche Proteine in dem Impfstoff mehreren Experten zufolge zu erwarten waren. Der Virologe Stephan Becker sagt sogar: „Man kann solche Untersuchungen anstellen, doch bringen sie uns nicht wirklich weiter. Sie beschreiben einen Zustand, der ziemlich normal ist. Daher verunsichern solche Studien meines Erachtens nur.“ Ob es einen Zusammenhang zwischen den Verunreinigungen zu Impfreaktionen gibt, könne man nicht beantworten, teilten die Ulmer Forscher mit. Greinacher wiederum glaubt, dass die Verunreinigungen ein – wenn auch nicht der einzige – Risikofaktor für TTS sind, weil sie die Entzündungsreaktion direkt nach der Impfung verstärken.
Ist auch der Impfabstand ein Faktor für Komplikationen?
Weitere Theorien machen das Bild noch komplexer. So warnt Greinacher im Gespräch mit „Zeit Online“ mit Blick auf TTS davor, den Impfabstand bei Astrazeneca von zwölf auf vier Wochen zu verkürzen. Denn die von ihm beschriebenen fehlgeleiteten Antikörper werden in der Regel innerhalb von 3 Monaten abgebaut. Bei einem kürzeren Impfabstand kann die Situation entstehen, dass unbemerkt gebildete Antikörper nach vier Wochen noch nicht abgebaut und noch aktiv sind und dann die zweite Impfung die Reaktion verstärken könnte. Mehrere andere von „Zeit Online“ befragte Experten betonten allerdings, dass es bisher keine Daten gebe, die diese Überlegung untermauern.
AstraZeneca und Johnson & Johnson Wie groß ist das Risiko von Komplikationen bei Vektorimpfstoffen?
Rückblick Schwere Nebenwirkungen bei Corona-Impfungen extrem selten
Corona Booster-Impfung und Antikörpertest – wichtige Fragen und Antworten
Öffentlich geführte Debatte verunsichern Laien
Dass die Diskussion über die verschiedenen Hypothesen für die im Zusammenhang mit Corona-Impfstoffen registrierten Hirnthrombosen in der breiten Öffentlichkeit stattfindet, kann eine Chance für Laien sein, Interesse wecken und Vertrauen in die Forschung stärken. Doch auch der umgekehrte Fall ist denkbar. So hat der Immunologe Watzl einen eher kritischen Blick. „Es wird unter Experten gestritten. Das ist normal. Wissenschaftler können mehrere Hypothesen auch über längere Zeit nebeneinander stehen lassen.“ Laien könnten das aber falsch verstehen und denken, dass selbst Forscher nicht mehr durchblicken. Die Diskussion solcher frühen Hypothesen sei nichts Geheimes, sagt Watzl. „Aber es bringt die Allgemeinheit nicht weiter und verunsichert im schlimmsten Fall.“
Quellen:
1. Eric Kowarz, Lea Krutzke, Jenny Reis, Silvia Bracharz, Stefan Kochanek, Rolf Marschalek (2021). Prescreen. Vaccine-Induced Covid-19 Mimicry” Syndrome: Splice reactions within the SARS-CoV-2 Spike open reading frame result in Spike protein variants that may cause thromboembolic events in patients immunized with vector-based vaccines
2. Lea Krutzke, Reinhild Roesler, Sebastian Wiese, Stefan Kochanek (2021). Prescreen. Process-related impurities in the ChAdOx1 nCov-19 vaccine