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Experte erklärt

Essstörungen – welche Erkrankungen dazu zählen und wie sie sich unterscheiden

Essstörungen: Junge Frau betrachtet sich im Spiegel
Essstörungen können die unterschiedlichsten Formen annehmen – und bleiben häufig lange unerkannt Foto: Getty Images/Image Source

1. März 2025, 17:52 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten

Weltweit leiden Millionen von Menschen unter Essstörungen – und entgegen eines weitverbreiteten Klischees betrifft dies nicht nur junge Frauen, sondern auch Männer, ältere Menschen und Personen unterschiedlichster ethnischer und sozialer Hintergründe. In unserer Gesellschaft, die stark von Idealbildern, Optimierungsgedanken und Perfektionsdruck geprägt ist, steigt die Zahl der Betroffenen stetig an. Umso wichtiger ist es, Essstörungen zu verstehen, Warnsignale zu erkennen und Betroffenen Hilfe anzubieten. Unser Experte, Prof. Dr. Hartmut Göbel, Chefarzt in der Schmerzklinik Kiel, klärt auf.

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Wann wird aus bedenklichem Essverhalten eine medizinisch diagnostizierbare Essstörung? Welche Arten von Essstörungen gibt es, wie kann man sie erkennen, unterscheiden und behandeln? Um all diese Fragen und noch viel mehr soll es im Folgenden gehen.

Was sind Essstörungen?

„Medizinisch betrachtet sind Essstörungen ernsthafte psychische Erkrankungen, die durch ein gestörtes Essverhalten und eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Ernährung, Lebensmittel, Körpergewicht und Selbstbild gekennzeichnet sind“, so Prof. Dr. Göbel. „Sie beeinflussen aber nicht nur die Ernährung, sondern das gesamte Leben der Betroffenen. Eine intensive Behandlung ist besonders wichtig, denn Essstörungen können schwerwiegende gesundheitliche Folgen für Körper und Psyche haben. Oft sind sie aber leider schwer zu erkennen, da sie sich langsam entwickeln und von außen nicht immer offensichtlich sind.“

Wer ist betroffen?

Besonders betroffen sind Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch Kinder und ältere Menschen sind gefährdet. Während Frauen zwar überrepräsentiert sind, nimmt auch die Zahl der betroffenen Männer und non-binären Personen stetig zu. In westlichen Industrieländern ist die Prävalenz (gesamte Anzahl der Fälle) höher, was auf soziale und kulturelle Einflüsse zurückzuführen ist.

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So verbreitet sind Essstörungen

Die genaue Verbreitung in Deutschland ist schwer zu bestimmen, doch Schätzungen zufolge sind bis zu 18 Prozent der jungen Frauen und zwei Prozent der jungen Männer betroffen. Besonders alarmierend: Etwa ein Drittel der Mädchen und zwölf Prozent der Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren zeigen bereits Symptome einer Essstörung. Da viele Fälle unentdeckt bleiben, dürfte die Dunkelziffer noch weitaus höher liegen.

Die 3 verbreitetsten Formen von Essstörungen

Binge-Eating-Störung (BES)

Häufigkeit

Die Binge-Eating-Störung (BES) ist die am weitesten verbreitete Essstörung. Sowohl Frauen als auch Männer leiden unter ihr, wobei letztere häufiger betroffen sind als bei anderen Essstörungen.

Merkmale

Typisch für BES sind wiederkehrende Essanfälle, bei denen Betroffene große Mengen Nahrung in kurzer Zeit zu sich nehmen, oft weit über ihr natürliches Sättigungsgefühl hinaus. Im Gegensatz zu Bulimie versuchen sie jedoch nicht, die aufgenommene Nahrung durch Erbrechen, exzessiven Sport oder andere kompensatorische Maßnahmen auszugleichen. Die Essanfälle gehen häufig mit einem Gefühl des Kontrollverlusts sowie starkem Scham- und Schuldgefühl einher.

Auswirkungen

Langfristig erhöht BES das Risiko für Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und psychische Erkrankungen wie Depressionen.

Anzeichen

Wiederholte Heißhungerattacken, Essen bis zu unangenehmer Völle, auch ohne Hunger und heimliches Essen.

Bulimia nervosa (Bulimie; Ess-Brech-Sucht)

Häufigkeit

Bulimie beginnt häufig im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter und betrifft überwiegend Frauen.

Merkmale

Wiederholte Episoden von Essanfällen, bei denen große Nahrungsmengen unkontrolliert zu sich genommen werden. Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, greifen Betroffene anschließend zu kompensatorischen Maßnahmen wie selbst herbeigeführtem Erbrechen, exzessivem Sport oder dem Missbrauch von Abführmitteln. Trotz oft normalem oder auch schlankem Körpergewicht besteht eine intensive Angst vor Gewichtszunahme

Auswirkungen

Häufiges Erbrechen kann die Speiseröhre sowie die Zähne erheblich schädigen und führt zu Elektrolytstörungen, die das Herz belasten. Zudem leiden viele Betroffene unter psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.

Anzeichen

Typisch sind heimliches, verstecktes Essen großer Nahrungsmengen, häufige Toilettengänge nach den Mahlzeiten sowie deutliche Gewichtsschwankungen, die durch das ständige Wechselspiel von Essanfällen und kompensatorischen Maßnahmen entstehen.

Anorexia nervosa (Anorexie; Magersucht)

Häufigkeit

Anorexie ist eine schwerwiegende Essstörung, die besonders häufig bei jungen Frauen auftritt. Sie gilt als die tödlichste aller psychischen Erkrankungen.

Merkmale

Charakteristisch für Anorexie ist ein starkes Untergewicht, das durch eine extreme Angst vor Gewichtszunahme und ein verzerrtes Körperbild begleitet wird. Betroffene setzen alles daran, ihr Gewicht so niedrig wie möglich zu halten, indem sie ihre Nahrungsaufnahme drastisch einschränken, exzessiv Sport treiben oder auf ungesunde Maßnahmen wie Erbrechen und Abführmittel zurückgreifen.

Auswirkungen

Die körperlichen Folgen dieser Erkrankung sind besonders gravierend, denn durch die massive Mangelernährung kann es zu Herzrhythmusstörungen, Knochenschwund (Osteoporose), Organversagen und im schlimmsten Fall zum Tod kommen.

Anzeichen

Deutliches Untergewicht, zwanghaftes Kalorienzählen, die Vermeidung von gemeinsamen Mahlzeiten sowie intensives Sporttreiben trotz körperlicher Erschöpfung.

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Weniger verbreitete Formen Formen von Essstörungen

Pregorexie

Häufigkeit

Pregorexie (Anorexie in der Schwangerschaft) ist eine seltene, aber sehr ernstzunehmende Essstörung, die vor allem Frauen betrifft, die bereits vor der Schwangerschaft unter einer Essstörung gelitten haben.

Merkmale

Betroffene unternehmen extreme Maßnahmen, um eine Gewichtszunahme während der Schwangerschaft zu verhindern. Dazu gehören eine drastische Kalorienreduktion, übermäßiger Sport oder absichtliches Erbrechen. Dies geschieht aus Angst vor der körperlichen Veränderung oder dem Kontrollverlust über das eigene Gewicht.

Auswirkungen

Die Folgen sind schwerwiegend, denn für das ungeborene Kind besteht ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung, Wachstumsverzögerungen und Frühgeburten. Auch die Mutter setzt ihre eigene Gesundheit aufs Spiel und riskiert Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt.

Anzeichen

Warnsignale sind eine ausbleibende oder sehr geringe Gewichtszunahme in der Schwangerschaft, der zwanghafte Wunsch, schlank zu bleiben, sowie eine übertriebene Beschäftigung mit Kalorien und Sport.

Ruminationsstörung

Häufigkeit

Die Ruminationsstörung ist eine seltene und wenig bekannte Essstörung, die sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen auftreten kann.

Merkmale

Betroffene würgen Nahrung nach dem Essen wieder hoch, kauen sie erneut und schlucken sie dann entweder wieder herunter oder spucken sie aus. Dies geschieht nicht krankheits- oder übelkeitsbedingt, sondern unbewusst oder als eine Art Selbstberuhigung.

Auswirkungen

Durch das ständige Hochwürgen der Nahrung kann ein Nährstoffmangel entstehen. Auch soziale Probleme spielen eine große Rolle, da das Verhalten oft als unangenehm oder peinlich empfunden wird.

Anzeichen

Ein Hinweis auf diese Störung ist das wiederholte Wiederkäuen von Nahrung, insbesondere in stressigen oder unangenehmen Situationen.

ARFID (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder)

Häufigkeit

Häufiger bei Kindern, kann aber auch bis ins Erwachsenenalter bestehen.

Merkmale

Im Gegensatz zur Anorexie liegt kein Wunsch nach Gewichtsverlust zugrunde. Stattdessen vermeiden Betroffene bestimmte Lebensmittel aufgrund sensorischer Empfindlichkeiten, Angst vor Würgereiz oder negativen Erfahrungen mit der Nahrung. Einige entwickeln eine generelle Abneigung gegen neue Lebensmittel oder bestimmte Konsistenzen.

Auswirkungen

Die Folge ist oft eine stark eingeschränkte Ernährung, die zu Mangelernährung, Wachstumsverzögerungen (bei Kindern) oder Untergewicht führen kann.

Anzeichen

Typische Anzeichen für ARFID sind eine sehr einseitige Ernährung, die Vermeidung bestimmter Texturen oder Geschmäcker und Angst vor unbekannten Lebensmitteln.

Pica-Syndrom

Häufigkeit

Besonders häufig bei kleinen Kindern, Schwangeren und Menschen mit Entwicklungsstörungen.

Merkmale

Die Störung äußert sich in einem zwanghaften Verlangen nach nicht-nahrhaften Substanzen wie Erde, Kreide, Papier oder sogar Seife. Bei den Betroffenen besteht kein Ekel oder Widerwille gegenüber diesen Materialien, sondern sie essen diese wiederholt über einen längeren Zeitraum.

Auswirkungen

Je nach Substanz kann es zu Vergiftungen, Magen-Darm-Problemen oder inneren Verletzungen kommen. Besonders gefährlich ist es, wenn schädliche oder toxische Materialien gegessen werden.

Anzeichen

Regelmäßige Essen nicht essbarer Materialien ohne ersichtlichen Grund.

Orthorexie

Häufigkeit

Orthorexie ist zwar noch nicht offiziell als Essstörung anerkannt, nimmt aber in gesundheitsbewussten Bevölkerungskreisen stetig zu.

Merkmale

Betroffene entwickeln eine zwanghafte Fixierung auf eine „gesunde“ Ernährung. Sie setzen sich strikte Ernährungsregeln und meiden zunehmend mehr Lebensmittelgruppen, die sie als „ungesund“ einstufen. Es geht dabei weniger um eine Gewichtsreduktion, sondern um das Gefühl von Reinheit (Clean Eating), Kontrolle oder Disziplin.

Auswirkungen

Diese Besessenheit von gesunder Ernährung kann zu ernsthaftem Nährstoffmangel führen und das soziale Leben stark einschränken, da gemeinsame Mahlzeiten mit anderen nicht mehr genossen und zunehmend vermieden werden. Außerdem entsteht oft ein erheblicher psychischer Druck, sich stets an die selbst auferlegten Regeln zu halten.

Anzeichen

Zwanghaftes Interesse an gesunder Ernährung, die strikte Vermeidung bestimmter Lebensmittel sowie Angst oder Schuldgefühle, wenn die eigene Ernährungsweise nicht eingehalten wird.

Biggerexie (Muscle Dysmorphia; Muskeldysmorphie)

Häufigkeit

Biggerexie, auch Muskeldysmorphie genannt, betrifft vor allem Männer, insbesondere in Fitness- und Bodybuilding-Kreisen.

Merkmale

Betroffene haben eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers und empfinden sich trotz sichtbarem Muskelaufbau als zu schmächtig oder nicht muskulös genug. Dies führt zu zwanghaftem Training, einer übermäßigen Aufnahme von Eiweiß und Nahrungsergänzungsmitteln sowie in manchen Fällen auch zum Missbrauch von Steroiden.

Auswirkungen

Die psychische Belastung kann enorm sein, da sich der gesamte Alltag um Muskelaufbau und Ernährung dreht. Soziale Kontakte oder andere Lebensbereiche werden oft vernachlässigt.

Anzeichen

Exzessives Training trotz Erschöpfung, eine zwanghafte Beschäftigung mit dem eigenen Körperbau und Unzufriedenheit, selbst bei deutlichem Muskelwachstum.

Allgemeine Warnsignale für Essstörungen

„Essstörungen äußern sich oft schleichend, doch bestimmte Warnsignale sollten uns hellhörig machen. Betroffene selbst nehmen häufig eine zunehmende gedankliche Fixierung auf Essen, Kalorien und Gewicht wahr. Sie treiben exzessiv Sport, entwickeln eine starke Angst vor Gewichtszunahme oder zeigen extremes Essverhalten, sei es durch heimliches Essen, übermäßiges Fasten oder strikte Diäten“, so Prof. Dr. Göbel. „Auch für das Umfeld gibt es erkennbare Hinweise, wie z. B. ein plötzlicher, mitunter rapider Gewichtsverlust oder eine auffällige Gewichtszunahme, sozialer Rückzug, das Meiden gemeinsamer Mahlzeiten oder auffällige Rituale beim Essen. Auch können häufige Toilettengänge direkt nach dem Essen auf kompensatorische Maßnahmen wie Erbrechen hinweisen. Wer solche Veränderungen bei sich oder anderen bemerkt, sollte aufmerksam bleiben und gegebenenfalls professionelle Hilfe in Betracht ziehen.“

Auslöser

Die Entstehung einer Essstörung ist meist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren. Psychische Aspekte sind oft entscheidend: Menschen mit geringem Selbstwertgefühl, Perfektionismus oder belastenden Erfahrungen wie Traumata und Depressionen sind besonders gefährdet. Hinzu kommen soziale Einflüsse, die den Druck verstärken, einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen, insbesondere forciert durch soziale Medien und Werbung, die oft unrealistische Körperbilder vermitteln. Kulturelle Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, da in manchen Gesellschaften ein bestimmtes Körperbild besonders idealisiert wird, was das Risiko für die Entwicklung einer Essstörung weiter erhöhen kann.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Behandlung von Essstörungen erfordert einen individuell abgestimmten Ansatz, der verschiedene therapeutische Maßnahmen kombiniert. Ein zentraler Bestandteil ist die Psychotherapie, bei der sowohl verhaltenstherapeutische als auch tiefenpsychologische Methoden helfen können, zugrunde liegende Probleme zu erkennen und zu bewältigen. Ergänzend dazu spielt die Ernährungstherapie eine wichtige Rolle, um ein gesundes Essverhalten zu erlernen und eine ausgewogene Nahrungsaufnahme zu etablieren.

In schweren Fällen kann eine medikamentöse Behandlung notwendig sein, beispielsweise durch den Einsatz von Antidepressiva zur Stabilisierung der psychischen Verfassung. Wenn die körperliche Gesundheit akut gefährdet ist, etwa durch starkes Untergewicht oder schwere Mangelernährung, kann eine stationäre Therapie in einer spezialisierten Klinik angeraten werden, um eine umfassende medizinische Versorgung und intensive therapeutische Unterstützung zu gewährleisten.

Kann man von einer Essstörung vollständig genesen?

Eine vollständige Genesung ist möglich, aber oft ein langwieriger Prozess. Viele Betroffene kämpfen auch nach der Therapie mit Rückfällen oder einem negativen Körperbild. Frühe Interventionen erhöhen die Heilungschancen erheblich.

Vorbeugung

Aufklärung und Sensibilisierung spielen eine entscheidende Rolle, denn je mehr Menschen über Essstörungen Bescheid wissen, desto eher können Warnsignale erkannt und ernst genommen werden. Gleichzeitig ist es wichtig, gesunde und vielfältige Körperbilder zu fördern, insbesondere in Werbung und sozialen Medien, in denen oft unrealistische Ideale vermittelt werden. Ein achtsamer Umgang mit Essen und dem eigenen Körper trägt dazu bei, ein gesundes Verhältnis zur Ernährung zu entwickeln und schädliche Denkmuster zu vermeiden. Zudem kann frühzeitige professionelle Unterstützung das Risiko einer chronischen Erkrankung verringern und den Heilungsprozess erleichtern. Essstörungen sind komplex, aber sie sind behandelbar.

Mehr zum Thema

Warum wird die Krankheit oft unterschätzt?

„Gesellschaftlich wird Essverhalten oft als „privates Problem“ angesehen. Zahlreiche Stereotypen tragen dazu bei, dass die Ernsthaftigkeit von Essstörungen oft verkannt wird. Besonders in sozialen Medien werden ungesunde Körperideale häufig idealisiert, was den Druck auf Betroffene weiter erhöht und das Problem zusätzlich verschärft. Und obwohl nicht jede Essstörung auf den ersten Blick lebensbedrohlich ist, können langfristig schwere körperliche und psychische Folgen entstehen, darunter Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose, Unfruchtbarkeit und Depressionen“, erklärt Prof. Dr. Göbel.

Mit fachlicher Beratung von Prof. Dr. Hartmut Göbel, Chefarzt in der Schmerzklinik Kiel.

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