3. August 2020, 10:13 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Gibt es etwas Besseres, als nach einem langen, schweißtreibenden Aufstieg mit pochendem Herzen auf einem Berggipfel zu stehen? Nein, findet unsere Autorin. Eine Liebeserklärung ans Wandern.
Endlich Berge, endlich wieder wandern!
Ich schiebe die schwere Decke von mir, setze mich im knarzenden Bett auf. Durch das gekippte Fenster kommt Luft, die nach frisch gewaschener Wäsche und nassem Gras riecht. Ich blicke durch das kleine Holzfenster direkt unter dem Dach der Pension. Das Tageslicht hat eine Bergkette wie auf einer Postkarte enthüllt. Um die Gipfelspitzen kuscheln sich noch Wolkenhäubchen, die gleich loslassen werden. In mir macht sich Vorfreude breit. Endlich Berge, endlich wieder wandern!
Als Kind habe ich Wandern gehasst. Einmal habe ich auf einer Bergtour jeden glitzernden Bergkristall in meinen Rucksack gepackt, den ich nur finden konnte. „Pack die Steine wieder aus!“, befahl meine Mutter und warnte mich vor: „Ich trage sie dir nämlich nicht!“ Ich konnte mich aber nicht von ihnen trennen. Es war eine Tagestour. Ich schleppte die Steine bis ins Tal, schlief zwei Tage durch und schwor meinem Teddy: nie wieder. Warum erzähle ich das? Ich glaube, diese Erfahrung hat mir eine Idee davon gegeben, was mich heute glücklich macht: die körperliche und mentale Herausforderung in genau dieser Umgebung.
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Wandern in den Bergen – Kontrast zum abgesicherten Alltag
Berge strahlen Macht aus, weil sie groß sind und steil, gewaltig, unwegsam und gefährlich. Sie urteilen nicht über mich. Das Wissen darum und ihr Anblick machen, dass ich mich klitzeklein fühle, unbedeutend. Die Zivilisation ist so weit weg, wie es bis zur nächsten Berghütte dauert. Du stapfst durch ein Schneefeld, das sich in einer Senke gehalten hat, während im Tal gerade Hochsommer ist. Aus dem Nichts umgeistert dich dichter Nebel, der dich die nächste Wegmarkierung nicht mehr erkennen lässt. In den Bergen wird es schnell existenziell. Sie geben mir die Möglichkeit, meinem abgesicherten Alltag zu entsteigen, und zeigen mir gleichzeitig die Schönheit der Natur auf.
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Wie das Kind, das sich im Spiel verliert
Beim Wandern durch unwegsames Gelände stoppen die üblichen Grübeleien. Stress, Probleme, Kummer? Spielen für den Moment keine Rolle. Denn ich muss mich darauf konzentrieren, an welche Stelle ich den nächsten und übernächsten Schritt setze. Ist dieser Stein fest? Ist die Stelle rutschig? Halte ich mein Gleichgewicht, wenn ich mein Körpergewicht gleich nach oben drücke? Stehe ich sicher? Muss ich die Hände zu Hilfe nehmen? Es gibt manchmal keinen Weg, ich muss mir selbst einen suchen. Das erfordert meine Aufmerksamkeit und zwingt mich dazu, langsam zu gehen und gleichmäßig zu atmen. Ich bin dann wie das Kind, das sich völlig im Spiel verliert. Ob man das jetzt Hier und Jetzt, Seins-Modus oder Glück nennt… geschenkt.
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Jedes Mal, wenn ich in den Bergen bin, werde ich auch mit Themen konfrontiert, die im Alltag keine besondere Rolle spielen: Dem launischen Wetter ausgeliefert zu sein, erfordert die Bereitschaft, eine Tour abzubrechen oder abzuwarten, ohne in Panik zu verfallen. Ich bin gezwungen, meine Kräfte ehrlich einzuschätzen, wenn ich viele Höhenmeter steigen will – und vor allem muss ich dabei auch an den Abstieg denken. Gleichzeitig muss ich meine Antriebslosigkeit überwinden.
Und dann staune ich immer, was für Erfolgserlebnisse beim Wandern möglich sind. Für mich ist es zutiefst befriedigend, nach langem, schweißtreibendem Aufstieg mit schnell schlagendem Herzen auf dem Gipfel zu stehen. Ein von der Intensität gleichwertiges Workout auf dem Laufband hätte sich viel anstrengender angefühlt – und bei weitem nicht so bereichernd! Eine Studie zur Gesundheitswirkung des Bergsports bestätigt diesen Effekt. Also ziehen Sie die Wanderschuhe an, es lohnt sich. Versprochen.
An diesem Tag bin ich rund 1000 Höhenmeter gestiegen. Eine Stunde vor dem Gipfel war Nebel aufgezogen und wer die Seilbahn genommen hatte, um die Gipfel-Aussicht zu genießen, dürfte ziemlich enttäuscht gewesen sein. Der Aufstieg war ein Abenteuer. Aber was für eins! An diesem Abend fiel ich erschöpft und überglücklich ins Bett.
Bitte beachten Sie: Beim Bergsport kann es fatale Folgen haben, die eigene Leistung zu überschätzen – und die inzwischen leider recht verbreitete Einstellung „Die Bergrettung wird’s schon richten, wenn ich nicht mehr weiter kann…“ ist nicht nur überheblich, sondern auch unangebracht. Wählen Sie daher bitte nur Routen aus, deren Anforderungen Sie gewachsen sind. Dazu gehört auch, die eigene Fitness einmal möglichst unvoreingenommen zu bewerten. Sind Sie fit? Gut vorbereitet? Haben gute Wanderschuhe? Dann steht ihrem alpinen Erlebnis nichts im Wege.