22. August 2023, 4:37 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Seit Herzogin Meghan jüngst mit einem Anti-Stress-Pflaster am Handgelenk gesehen wurde, sind die Produkte der Firma „Nucalm“ in aller Munde. Der Hersteller verspricht Entspannung, Ruhe und Erholung. Ein Neurologe und ein Schlafmediziner ordnen bei FITBOOK die „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ ein, auf denen die Wirkung beruhen soll.
Was jüngst am Handgelenk der Herzogin von Sussex entdeckt wurde, war ausnahmsweise kein neues Luxus-Armband oder eine teure Uhr. Es war ein blauer Aufkleber mit weißen Ringen von nur wenigen Zentimetern Durchmesser, von dem Journalisten schnell herausfanden, dass es sich um die „Nucalm Biosignal Processing Disc“ handelte: ein sogenanntes Anti-Stress-Pflaster, Kostenpunkt wenige Dollar pro Stück. Die Versprechen des Unternehmens lesen sich wie ein wahr gewordener Traum: die Rede ist von Entspannungs-, Schlaf-, Konzentrations- und Kreativitätsförderung – die Wirkung angeblich wissenschaftlich belegt. Für FITBOOK hat sich Neurologe Prof. Frank Erbguth die Erkenntnisse des Produktherstellers angesehen und eingeordnet. Außerdem haben wir einen Schlafmediziner gefragt, ob solche Produkte in seinem Fachgebiet Anwendung finden. Kann man Stress mit einem Pflaster sozusagen „wegkleben“?
Übersicht
„Nucalm“ verspricht weniger Stress, mehr Wohlbefinden, besserer Schlaf
Die Firma „Nucalm“ mit Sitz in Willington (US-Staat North Carolina) wurde 2002 gegründet und hat sich auf die Herstellung von Geräten zur Entspannung und Stressreduzierung spezialisiert hat. Mithilfe von Technologien wie Biofeedback (wird auch in Deutschland von einigen Ärzten, Psychologen und Psychiatern angeboten1) soll Stress abgebaut, Wohlbefinden und Schlaf sowie Konzentration und Kreativität verbessert werden.
Biofeedback
Bei Biofeedback handelt es sich um einen Begriff aus der Verhaltensmedizin. Im Rahmen dieses Verfahrens erhalten Patienten Feedback zu ihnen sonst unbewussten Prozessen ihres Körpers, wie z.B. Puls oder Herzfrequenz. Außerdem lernen sie Mittel und Wege, diese zu beeinflussen. Anwendungsgebiete sind etwa chronische Schmerzen oder psychische Erkrankungen.
So soll die „Nucalm Biosignal Processing Disc“ wirken
Die Firma behauptet auf ihrer Website, über das Device auf physiologisch-endogene Parameter des Stresses abzuzielen, indem neuroakustische Signale erzeugt werden (Gehirnwellenfrequenzen). Das Ergebnis soll eine Reduktion der sympathischen Aktivität des autonomen Nervensystems zugunsten der parasympathischen Aktivität sein – also Ruhe, Erholung, Entspannung.
In entsprechenden Untersuchungen hätten solche Veränderungen nachgewiesen werden können.2 Es hätten sich entsprechende elektrische und neuroendokrine Parameter geändert, erläutert der Hersteller.
Unabhängiger Neurologe über die wissenschaftliche Basis von „Nucalm“
Etwas salopp ausgedrückt: Kann man Stress und Unentspanntheit tatsächlich „wegpflastern“? Haben wir es hier mit einer simplen Lösung gegen Stress zu tun, die man am Handgelenk trägt? FITBOOK bat Prof. Dr. med. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung um Einordnung jener wissenschaftlichen Erkenntnisse. Er entlarvt die Versprechen der Firma doch recht schnell als – sagen wir mal vorsichtig: Pseudowissenschaft.
„Man weiß nicht, ob Händchenhalten den gleichen Effekt erziehen kann“
Laut dem Neurologen seien lediglich die „Parameter“ gemessen worden, nicht aber die Auswirkungen auf die Zustände (Surrogatparameter). Zudem bemängelt er, dass ohne Vergleichsgruppe gemessen wurde. Erbguth zu FITBOOK: „Man weiß nicht, ob z.B. Händchenhalten etwa den gleichen Effekt erzielen kann.“
Wirken 20 Minuten „Nucalm“ wie 2 Stunden erholsamer Schlaf? Somnologe winkt ab
Damit aber noch nicht genug der Behauptungen. Eine weitere, die sich überall auf der Firmenwebsite wiederfindet, trifft die erstaunliche Aussage, dass man „mit Nucalm in nur 20 Minuten über zwei Stunden erholsamen Schlaf“ erhält. Herausgefunden haben soll das die Harvard Medical School. Eine entsprechende Studie ist im Internet nicht zu finden. Auf der Nachrichtenseite Reddit schreibt jemand, dass die Aussage auf Dr. Chung-Kang Peng zurückzuführen ist, einer der Forscher, der maßgeblich an der Entwicklung von „NuCalm“ beteiligt gewesen sein soll.3 Überprüfen konnte FITBOOK das nicht, aber das Unternehmen führt Peng immer wieder als Experte an, u.a. auf einem Whitepaper von 2022.4
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„Können Schlaf nicht durch eine andere Methode imitieren“
Zwei Stunden erholsamen Schlaf nachholen, indem man sich ein Anti-Stress-Pflaster aufs Handgelenk klebt – wohlgemerkt im Wachzustand! Das klingt doch zumindest wie der heilige Gral übernächtigter Eltern. Dr. Hans-Günter Weeß, Somnologe, Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums am Pfalzklinikum Klingenmünster und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Schlaf (u.a. „Schlaf wirkt Wunder“, Droemer Verlag), bestätigt uns, dass es immer wieder Ansätze gab mit dem Versuch, durch bestimmte Frequenzen das Gehirn zu beeinflussen und vor allem Tiefschlaf zu stimulieren. „Mir sind dazu keine Studien bekannt, welche eine nachhaltige Wirkung dieser Stimulationen belegen“, resümiert der Schlafmediziner. In der Schlafmedizin fänden Methoden wie das Anti-Stress-Pflaster aus diesem Grund keine Anwendung.
Schlaf sei ein hochkomplexer biologischer Prozess, „welchen wir bis heute nur in Ansätzen verstanden haben“, erklärt Weeß. Und aus diesem Grund können wir Schlaf auch nicht durch eine andere Methode imitieren. „Sogar eine Narkose oder das Koma ist nicht mit Schlaf zu vergleichen“ – geschweige denn ein Pflaster.
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Quellen
- 1. Deutsche Gesellschaft für Biofeedback. Was ist Bio-bzw. Neurofeedback? (aufgerufen am 21.08.2023)
- 2. NuCalm.com. NuCalm Research Studies (aufgerufen am 21.08.2023)
- 3. Reddit. r/NuCalm (2022, aufgerufen am 21.08.2023)
- 4. Nu Calm White Paper: The Evolution and Efficacy of Nucalm (2022, aufgerufen am 21.08.2023)