12. Mai 2020, 12:39 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Seit Jahren war ich von der Idee fasziniert, mal ganz abgeschieden zehn Tage zu schweigen und zu meditieren. Für diese Prozedur gibt es einen Namen: Vipassana. Im Süden Indiens in dem Bundesstaat Kerala habe ich es in einem Meditationszentrum ausprobiert. Eines vorab: Es war das Härteste, was ich jemals gemacht habe. Dennoch würde ich es wieder tun. Fünf Gründe, warum Vipassana glücklich macht.
Ich bin schon als Teenager gerne an meine persönlichen Limits gegangen – wenn auch vermutlich etwas anders als der Durchschnitt der Heranwachsenden. Mit 14 verzichtete ich ein Jahr auf Süßes und Fettiges, um meinen Speck loszuwerden. Fasziniert von Ausdauersport habe ich ein Jahr später mit Triathlon angefangen. Mit 17 zum ersten Mal eine Woche gefastet und mit 19 meinen ersten Marathon absolviert. Doch das alles ist nichts im Vergleich zu einer Meditationsform, die ich in Indien am eigenen Leib erfahren durfte: Vipassana.
Vipassana kommt ursprünglich aus dem Buddhistischen und hat eine Jahrhunderte alte Tradition. Es ist eine Art der Meditation, bei der man im Geiste seinen Körper beobachtet. Anders als bei anderen Meditationsarten fokussiert man sich nicht vorrangig auf die Atmung, einen bestimmten Punkt oder wiederholt innerlich ein Mantra (wie „Ohm“). Stattdessen spielt die Wahrnehmung von Schmerz und anderen Sinneseindrücken eine wichtige Rolle.
100 Stunden sitzen und meditieren in zehn Tagen
Wer Vipassana selbst ausprobieren möchte, sollte deshalb einiges aushalten können. Denn die körperlichen Schmerzen begleiten einen an rund 100 Stunden in zehn Tagen. Vipassana-Seminare gibt es mit leicht unterschiedlichen Abläufen, aber einer der wohl effektivsten besteht darin, an zehn über den Tag verteilten Stunden im Sitzen auf dem Boden zu meditieren.
Das hört sich harmlos an, doch die Schmerzen, die dabei entstehen, wenn man den Körper versucht, in einer bestimmten Postion bewegungslos zu halten, sind unvorstellbar. Meist ist es der Rücken, der jede mögliche Ausprägung von Schmerz annimmt. Dann die Knöchel, die Füße, die Knie und die Oberschenkel, die am besten im Schneidersitz verharren sollen.
Warum tut man sich also diese Qualen an und warum ist man am Ende dennoch glücklich, es gemacht zu haben? Ich habe fünf gute Gründe dafür.
Auch interessant: Darum sollten Sie Meditation ausprobieren
Grund 1: Völlige Abgeschiedenheit beruhigt den Geist
Kein Internet, kein Smartphone, keine Bücher, keine Zeitungen, keine Informationen über die Außenwelt. Bei Vipassana soll der Geist zur Ruhe kommen und dafür lebt man für zehn Tage in totaler Abgeschiedenheit. Die Seminare, die weltweit veranstaltet werden, sind meist in Meditationszentren oder Veranstaltungsorten, die eigens dafür angemietet wurden. Und tatsächlich: Man fokussiert sich komplett auf sich selbst. Ablenkung ist keine vorhanden.
Dabei merkt man erst, wie unberechenbar und unkontrolliert der Verstand agiert. Man erkennt aber auch, wie der Großteil der Informationen, die uns im Alltag umgeben, unwichtig sind. Auch der Besitz, den wir angehäuft haben, verliert an Bedeutung. Einfach nur ein gutes Buch würde zum Glücklichsein schon ausreichen.
Grund 2: Kommunikationsverbot hilft, sich zu fokussieren
Bei Vipassana wird nicht gesprochen. Mit niemandem, außer dem Lehrer, wenn beispielsweise Klärungsbedarf besteht. Doch ist nicht nur das gesprochene Wort verboten, sondern jegliche Art der Interaktion. So darf anderen Teilnehmern weder in die Augen geschaut werden, noch darf man lächeln oder sonst wie Kontakt aufnehmen.
Dabei merkt man erst, wie oft wir im Alltag kommunizieren – und wie wichtig das für unser Wohlbefinden ist. Dabei ist jedoch entscheidend, dass sich jeder Teilnehmer mit seinem eigenen Leid(en) während des Seminars auseinandersetzt und daher nicht kommuniziert.
Nach mehreren Tagen völliger Einsamkeit sehnt man sich geradezu nach zwischenmenschlichem Kontakt. Wenn am zehnten Meditationstag wieder gesprochen werden darf, ist es ein großes Glücksgefühl, sich endlich mit anderen über das Erlebte austauschen zu dürfen.
Auch interessant: Das bringen Meditations-Apps wirklich
Grund 3: Schmerz kommt, Schmerz vergeht
Eine der wichtigsten Übungen bei Vipassana ist es, den Körper dabei zu beobachten, wie Schmerz entsteht und wieder von alleine vergeht. Dabei scannt man den Köper innerlich von Kopf bis Fuß ab – Zentimeter für Zentimeter. Das Besondere ist: Schmerz und alle anderen Sinneseindrücke, die man am Körper fühlt, werden gleichwertig wahrgenommen. Ein laues Lüftchen auf der Haut soll man genauso ruhig und ausgeglichen beobachten wie den größten Schmerz am Rücken oder in den Beinen.
So lernt man, dass früher oder später jeder Schmerz vergeht – selbst der größte. Bei Vipassana wird davon ausgegangen, dass der Schmerz, den wir während der Meditation verspüren, all unsere negativen Erfahrungen sind, die im Unterbewusstsein schlummern. Durch die Meditation treten sie nach außen und können verarbeitet werden.
Unabhängig davon, ob man das nachvollziehen kann oder nicht, lernt man, besser mit seinem Schmerz umzugehen – und innerlich selbst unter größtem Leidensdruck ruhig zu bleiben.
Grund 4: Mehr Selbstvertrauen, weniger Überheblichkeit
Nach den Qualen am ersten Vipassana-Tag fragt man sich unweigerlich: „Wie soll ich das noch neun Tage lang ertragen?“ Es erscheint einem wie ein unerreichbares Ziel. Die Schmerzen werden von Tag zu Tag größer, spätestens nach einer Woche ist man mental und körperlich erschöpft. Doch da stehen noch drei weitere Tage bevor.
Wer das alles aushält, sich an die strengen Alltagsregeln und die Meditationslehre – so weit es geht – hält, der ist am Ende über sich selbst hinausgewachsen. Davon profitiert das Selbstvertrauen, jedes Ziel scheint zum Greifen nah.
Gleichzeitig lernt man bei Vipassana, demütig zu sein – und dass nicht die anderen daran schuld sind, wenn es uns schlecht geht, sondern die Gründe dafür in uns selbst liegen. Man versucht also hinterher, sich selbst und das eigene Ego nicht mehr so wichtig zu nehmen.
Auch interessant: Wie Achtsamkeitstraining hilft, besser mit Stress umzugehen
Es startete mit einem Protest Indischer Mönch hält seit 50 Jahren den Arm hoch – warum er ihn nicht mehr senken kann
Mind-Muscle-Connection Achtsamkeits-Coach Julian Schömbs: „Meditation ist mein Schlüssel zum Traumkörper!“
Achtsamkeit Chanten – Was hinter dem Mantra, Singen und Meditieren steckt
Grund 5: Innere Balance und mehr Gelassenheit
Wie bei den meisten Meditationsarten und Achtsamkeitsübungen geht es auch bei Vipassana darum, eine innere Balance zu erreichen und gelassen mit sich selbst und der Umwelt umzugehen. Dabei erkennt man, wie ungestüm der eigene Verstand ist und dass man ihn mit Meditation bändigen kann.
In den zehn Tagen Vipassana legt man einen guten Grundstein dafür. Allerdings ist damit die Arbeit längst nicht abgeschlossen. Nur wer weiter regelmäßig meditiert, kann auch langfristig seine innere Balance wahren. Und selbst dann ist man vor Misserfolgen nicht gefeilt. An manchen Tagen will es einfach nicht gelingen, beim Meditieren oder im Alltag ruhig und gelassen zu bleiben.
Doch Vipassana lehrt uns: Alles kommt und geht wieder, das ganze Leben wie auch wir selbst sind im ständigen Wandel. Wenn man also akzeptiert, dass nichts von Dauer ist, weder Erfolg noch Misserfolg, weder Glück noch Leid, wird man gelassener, falls das Leben sich nicht nach unseren Vorstellungen entwickelt.