12. April 2020, 17:41 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Wir haben mit einem Psychologen darüber gesprochen, warum wir dazu neigen, in der Isolation durchzudrehen, und was das mit uns macht. Und natürlich haben wir auch Empfehlungen, wie man den Lagerkoller in Corona-Quarantäne möglichst vermeiden kann.
Als ich diesen Text schreibe, bin ich mittlerweile bei Tag 13 in Selbstisolation angekommen. Ich arbeite im Homeoffice, telefoniere, führe Interviews über Facetime, treffe Freunde in Chats, gehe nur täglich eine Runde zum Spazieren raus, mache Yoga-Sessions statt schwimmen zu gehen, gehe einmal die Woche einkaufen, benutze kaum Öffis. Nur an meinem Geburtstag habe ich eine Freundin bei mir zu Hause getroffen und damit einen anderen Menschen gesehen als meinen Freund, mit dem ich gemeinsam wohne. Langsam merke auch ich, dass das etwas mit mir macht. Ich habe den Vorteil, ein Arbeitszimmer zu haben, das bedeutet: Ich trenne Job und Freizeit auch in meiner Wohnung. Allerdings hilft das nur bedingt, um ein undefinierbares Gefühl von aufkommender Unruhe zu bekämpfen, neben all den kleinen Riten, die ich mir schon geschaffen habe. So etwas nennt man gemeinhin wohl „Lagerkoller“.
Lagerkoller ist nicht wissenschaftlich definiert
Der Begriff Lagerkoller ist nicht wissenschaftlich definiert, beinhaltet aber die Verhaltensmuster, wenn man lange in Isolation leben muss. Das passiert nicht nur in Pandemiezeiten, sondern auch, wenn Menschen in Haft leben. Auch die NASA hat bereits einige Studien durchgeführt, indem sie beobachtet hat, wie Menschen sich in sehr kleinen Gruppen bei langen Raumfahrtmissionen verhalten. Schon merkwürdig, dass so etwas passiert. Über die Gründe kann uns Prof. Dr. Stephan Mühlig etwas genauer Auskunft geben. Er ist Inhaber der Professur Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Chemnitz.
„Ein völlig ungewohnte Ausnahmesituation“
Für ihn ist einer der wichtigsten Faktoren daran die Ungewissheit der Situation: „Keiner weiß, wie lange das dauern wird, es ist für uns alle neu. Das ist besonders quälend, weil es viele verunsichert“, sagt der Psychologe. Unsicherheit kann zu Stress führen und dementsprechend emotional belasten. Hinzu kämen für viele Menschen auch echte Existenzängste, weil sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können und auch hier nicht wirklich wissen, welche Folgen die Situation noch haben wird.
Auch in den eigenen vier Wänden über lange Zeit zu sein, könne schnell ganz schön monoton werden. Nun gut, aber wie kann man denn den Lagerkoller zumindest ein bisschen verhindern? Dr. Mühlig hat zehn Empfehlungen parat, aus denen man vielleicht auch etwas für sich ziehen kann. Und immer wichtig: Positiv bleiben und auch an die guten Dinge in dieser Situation denken!
1. Den Tagesrhythmus beibehalten!
Wenn der Arbeitsbereich zu Hause nur wenige Meter entfernt ist, hat man natürlich einen viel kürzeren Weg als sonst. Dass man aber trotzdem nicht erst zehn Minuten vor dem Meeting aufstehen, sondern den Morgen gemütlich starten sollte, ist extrem wichtig. „Dies schafft eine regelmäßige Tagesstruktur und begünstigt die emotionale Stabilität“, erklärt Mühlig. Man sollte den Tag so gestalten, wie man es sonst auch tut: Pausen, essen gehen, Sport machen usw.
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2. An die frische Luft gehen!
Wenn wir draußen sind, hat dies positive Effekte auf unseren ganzen Körper: „Bewegung und frische Luft kommt der körperlichen wie der psychischen Gesundheit zugute, das Immunsystem wird angeregt“, erklärt Prof. Mühlig. „Wird die Lunge durch moderate Anstrengung belüftet, ist sie besser durchblutet, was wiederum die Infektabwehr auch gegen SARS-CoV-2 unterstützt.“
Außerdem kann ein zumindest kurzzeitiger Ortswechsel „die Reizmonotonie“ in den eigenen vier Wänden verhindern und steigert so das Wohlbefinden.
3. Zu Hause Sport machen!
Sport ist und bleibt eines der wirksamsten Mittel gegen Lagerkoller. Und gerade jetzt sollten auch Sportmuffel darauf achten, dass sie ausreichend Bewegung bekommen. Sport ist auch wichtig für das seelische Wohlbefinden.
15 bis 30 Minuten täglich in Bewegung mit möglichst guter Raumbelüftung, können schon ausreichen. Einfach das machen, was gefällt: Seilspringen, Kniebeugen, Liegestütze, Sit-ups oder auch Yoga. „Regelmäßige moderate sportliche Beanspruchung bis zum leichten Schwitzen stabilisiert das Herz-Kreislauf-System, die Immunabwehr, aber auch das psychische Wohlbefinden und dient dem Spannungs- und Stressabbau“, sagt Dr. Mühlig dazu.
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4. Auf Alkohol und Zigaretten verzichten!
Viele Laster tun auch in häuslicher Isolation nicht gut, im Gegenteil: Sie wirken noch verheerender als sonst. Sie schaden dem Immunsystem und im Fall vom Rauchen auch der Lunge, darauf weist auch der Psychologe hin: „Eine vorgeschädigte oder akut gereizte Lunge ist wahrscheinlich mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf verbunden, falls Raucher sich infizieren und erkranken sollten. Auch Alkoholkonsum ist nicht hilfreich. Alkohol tötet Viren nur im Reagenzglas. Alkohol in der Blutbahn schützt hingegen nicht vor einer Virusinfektion, stört aber das Immunsystem. Dies gilt auch für andere Drogen.“
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5. Digitalen Kontakt zu Freunden und Verwandten halten!
Wir Menschen sind nicht zum Alleinsein gemacht. Deswegen fällt ein Kontaktverbot uns besonders schwer, denn gerade in Krisenzeiten sind wir es gewohnt, eher zusammenzurücken. Das muss nun digital geschehen.
Auch Dr. Mühlig rät aus psychologischer Sicht, die Kommunikationsmittel zu benutzen, um Vereinsamung vorzubeugen: „Wir können uns in Echtzeit schreiben bzw. chatten, telefonieren und uns per Videochat sehen und unterhalten, fast als säßen wir uns gegenüber. Man sollte diese Möglichkeiten voll ausnutzen, Kontakt halten und den Austausch mit möglichst vielen Angehörigen, Freunden und Bekannten über Social Media suchen. In einer schwierigen Situation kann man sich über Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen.“
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6. Sich abwechslungsreiche Hobbys suchen!
Monotonie ist unser Feind. Unser Gehirn mag das nicht, es macht uns kirre. Deswegen ist Dauer-Streaming keine gute Lösung für eine Quarantäne-Situation. Hilfreich gegen Lagerkoller: Man braucht Abwechslung, vor allem wenn die Umgebung 24/7 die Gleiche ist – und wenn die Isolation über mehrere Wochen geht.
„Wichtig für die emotionale Stabilität ist es, sich Aufgaben zu suchen, mit denen man in der Wartezeit produktiv bleiben kann“, rät der Experte. Also einfach mal was Neues ausprobieren: Kochen, malen, backen, lesen, Gesellschaftsspiele – es gibt so viele Möglichkeiten.
7. Die Balance zwischen Zusammensein und Für-sich-sein finden!
Wenn man lange auf einem Fleck zusammenlebt, fällt dieser Punkt gerade in einer WG oder einer Partnerschaft zunehmend schwer. Man geht sich auf die Nerven, wie an Weihnachten, wenn die Familie zusammentrifft. Kleinigkeiten können einen extrem nerven.
„Hier gilt es, eine gute Balance zwischen Zusammensein und Für-sich-sein zu finden. Dazu zählt in erster Linie, die eigene Privatsphäre zu schützen und die der anderen zu respektieren“, sagt Mühlig. Dafür muss man sich eigene Rückzugsräume und -möglichkeiten schaffen. Das geht leichter in einer großen Wohnung, kann aber auch im Kleinen funktionieren. Dann gehört dem einen eben das Sofa, und der Freundin oder dem Freund der Küchentisch.
8. Regeln für das Zusammenleben im Haushalt definieren!
„Zur gegenseitigen Rücksichtnahme gehört auch, eine gemeinsame Ordnung im Haushalt und Regeln des Zusammenlebens zu finden“, meint Dr. Mühlig. Weil, ganz logisch: „Wenn alle mehr Rücksicht aufeinander nehmen, gibt es weniger Anlass zum Streit. Wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann, sollte man Konflikte vermeiden oder schnell regeln.“
Für ein angenehmes Zusammenleben ist es auch hilfreich, einige Aktivitäten mit allen Haushaltsmitgliedern regelmäßig gemeinsam zu machen, etwa das Ritual gemeinsamer Mahlzeiten, aber auch gemeinsame Freizeitaktivitäten wie Gesellschaftsspiele, Basteln oder puzzeln.
9. Auf seriöse Informationsquellen achten!
Ja, es ist wichtig, informiert zu sein und über alle Entwicklungen in der Coronakrise Bescheid zu wissen. Aber man kann auch zu viele Informationen bekommen und vor allem auch: die falschen. Das kann noch mehr verunsichern statt zu beruhigen. „Andererseits gibt es trotz allem keinen Grund, in Panik zu verfallen. Wir leben in einem reichen Land mit vielen Ressourcen und werden diese Krise letztlich durchstehen“, sagt Dr. Mühlig.
Man sollte auf die Informationsquellen achten, auf etablierte Medien und nicht auf geteilte Meldungen unbekannter Blogs. Fake News seien insofern gefährlich, „weil Nichtbeachtung von Sicherheitsempfehlungen uns alle gefährdet“, betont der Psychologe.
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10. Keine Angst haben, sich Hilfe zu suchen
Viele finden gerade erst zum ersten Mal heraus, wie sie überhaupt in Ausnahmesituationen reagieren oder funktionieren. Wenn das alles zu viel wird, sollte man keine Scham oder Angst haben, sich Hilfe zu suchen.
Wer den Eindruck hat, mit der Situation überfordert zu sein oder unter Angstzuständen, Unruhe, starker Anspannung, Überaktivität, Gereiztheit, aggressiven Ausbrüchen oder ausgeprägter Niedergeschlagenheit leidet, sollte rechtzeitig mit dem professionellen Hilfesystem, zum Beispiel den Beratungsstellen bei den Krankenkassen, Sorgentelefon, psychotherapeutische Beratungsstellen, Kontakt per Telefon oder E-Mail aufnehmen.
(dieser Artikel von Sabine Winkler erschien zuerst bei Noizz)