7. April 2021, 14:38 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
In den sozialen Medien finden sich hunderte Berichte von Frauen weltweit, die anprangern, dass ihre Beschwerden von medizinischem Fachpersonal heruntergespielt werden. Eine US-Studie ist diesem Phänomen nun nachgegangen und hat herausgefunden, dass die Vorwürfe stimmen. Patientinnen haben in vielerlei Hinsicht Nachteile bei der medizinischen Versorgung.
Die größte Erkenntnis der Studie: Die Schmerzen von Frauen werden weniger ernst genommen, als die von Männern. Dabei ist es unerheblich, welches Geschlecht diese Einschätzung trifft. Das Unterschätzen von Symptomen bei Frauen kann weitreichende Folgen haben. Die Studie warnt, dass Patientinnen so eine unzureichende Behandlung bekommen könnten, was ihre Gesundheit, in einigen Fällen sogar ihr Leben, gefährden kann.
Studie ließ Schulterschmerzen analysieren
Die aktuelle Studie der University of Miami bestand aus zwei Experimenten. Bestandteil beider Versuche waren Videos von männlichen und weiblichen Patienten mit Schulterschmerzen, die verschiedene Übungen mit der verletzten und der unverletzten Schulter durchführten. Die jeweiligen Patient*innen hatten ihren Schmerz zuvor selbst bewertet. Zudem wurden ihre Gesichtsausdrücke vom Facal Action Coding System (FACS) analysiert, um einen objektiven Anhaltspunkt zu haben, wie schlimm die Schmerzen tatsächlich waren.
Im ersten Versuch sahen sich 50 Proband*innen die Videos an. Sie sollten anhand einer Skala von eins bis 100 schätzen, wie hoch der Schmerz der jeweiligen Person im Video war. Eins stand dabei für „überhaupt kein Schmerz“, 100 für „schlimmstmöglicher Schmerz“.
Im zweiten Experiment wurde der erste Versuch mit 200 Proband*innen wiederholt. Allerdings bekam diese Gruppe nach ihrer Einschätzung der Videos noch einen Fragebogen. Darin wurden geschlechtsspezifische Stereotype über Schmerzempfindlichkeit, Durchhaltevermögen bei Schmerzen und den Willen, Schmerz zu melden, abgefragt. Zudem sollten die Proband*innen angeben, wie viele Medikamente oder Psychotherapie-Einheiten (nicht Physiotherapie!) sie den jeweiligen Personen verschreiben würden und welche der beiden Behandlungen sie für effektiver halten würden.
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Der Schmerz von Frauen wurde als geringer eingeschätzt
Das Forscherteam verglich die Antworten der Proband*innen mit dem selbst bewerteten Schmerzlevel der Patient*innen und der Analyse der Gesichtssoftware. Dabei zeigte sich: Wenn weibliche und männliche Patienten denselben Schmerzlevel angegeben hatten, wurde der Schmerz der Frauen dennoch von den Proband*innen als geringer eingeschätzt. Anhand der Antworten des Fragebogens schlussfolgerte das Forscherteam, dass diese Entwicklung teilweise durch Vorurteile erklärt werden könne.
Ein Stereotyp lautet, dass Frauen ausdrucksstärker als Männer seien. Das führe zu einer Tendenz, den Schmerz von Frauen zu unterschätzen, erklärt Elizabeth Losin, eine Autorin der Studie. „Die Kehrseite des Stereotypes ist, dass Männer als stoisch wahrgenommen werden. Wenn ein Mann also intensiv das Gesicht verzieht, denkt man: ‚Er muss tödliche Schmerzen haben.‘“ Ein Resultat dieser Vorurteile über Schmerzausdruck sei, dass eine Zunahme der Schmerzen bei Männern als deutlich schlimmer angesehen werde als exakt dieselbe Schmerz-Zunahme bei Frauen.
Eine weitere interessante Erkenntnis der Studie aus Miami: Es ist egal, welches Geschlecht die Schmerzen bewertet. Sowohl weibliche als auch männliche Probanden nahmen den Schmerz von Frauen weniger ernst als den von Männern.
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Auch beim Therapieansatz zeigten sich Unterschiede. Die Proband*innen nannten häufiger Psychotherapie als effektivere Methode für Patientinnen und Schmerzmittel als effektiver für Patienten. Dabei handelt es sich nicht um einen Rechtschreibfehler: Tatsächlich wollten die Proband*innen den weiblichen Patienten Psychotherapie für ihre Schulterschmerzen verschreiben.
Im realen Leben bekommen Frauen seltener Behandlungen verschrieben als Männer, warnt Losin, Psychologin und Direktorin des sozialen und kulturellen Neurowissenschaftslabors an der University of Miami. Zudem müssten Patientinnen länger auf Behandlungen warten.
Die Fachliteratur zeige große demographische Unterschiede bei der Verbreitung von klinischen Schmerzzuständen und der Behandlung von Schmerzen. Das führe zu einer „Ungleichheit, denn es scheint, als würden einige Menschen aufgrund ihrer Demographie bei Schmerzen weniger therapiert werden“. Losin und ihre Forschungskolleg*innen hoffen, dass die Studie dazu beitragen wird, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Gesundheitssystem anzusprechen. Medizinisches Fachpersonal gehe weibliche und männliche Patienten anders an, was häufig Einfluss auf die Wahl der Behandlung hätte. Im schlimmsten Fall kann das gravierende gesundheitliche Folgen für Frauen haben, deren Schmerzen nicht ernst genug genommen werden.