20. Januar 2022, 14:19 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Müdigkeit, Schmerzen, Fieber: Nach einer Impfung treten häufig leichte Nebenwirkungen auf. Doch oftmals ist gar nicht der Impfstoff selbst verantwortlich dafür, sondern die unbewusste Erwartung des Geimpften. FITBOOK erklärt, was es mit dem Nocebo-Effekt auf sich hat.
Man ist müde, fühlt sich schlapp und hat Kopfschmerzen. Doch was als typische Nebenwirkungen einer Corona-Schutzimpfung gedeutet wird, sind häufig keine Impfreaktionen, sondern das Ergebnis des sogenannten Nocebo-Effekts. Bis zu drei Viertel aller leichten Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung können sich offenbar durch den Nocebo-Effekt erklären lassen. Das ergab die systematische Auswertung von zwölf Studien, die nun im Fachmagazin „JAMA Network Open“ erschien.
Übersicht
Was ist der Nocebo-Effekt?
Der Nocebo-Effekt ist das Gegenstück zum Placebo-Effekt, bei dem Patienten nach einer Scheinbehandlung eine positive Wirkung verspüren. Beim Nocebo-Effekt ist genau Umgekehrte der Fall. Statt eine Besserung nach der Gabe eines Medikaments zu erwarten, befürchten Patienten, eine negative Wirkung zu spüren – die dann auch auftritt. Somit ist die Bedingung für das Entstehen dieses Effekts also das Wissen um die möglichen schädliche Auswirkungen eines Medikaments oder einer Therapie.1
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Nocebo-Effekt bei Corona-Schutzimpfungen
Auch bei Studien zur Erprobung der Impfstoffe gegen Corona konnte der Nocebo-Effekt beobachtet werden. Wie vorgeschrieben, bekommt in diesen Studien jeweils nur die Hälfte der Probanden den echten Impfstoff injiziert. Die andere Hälfte erhält lediglich eine Spritze mit Kochsalzlösung. Natürlich wissen die Teilnehmer nicht, in welcher Gruppe sie sind.
Forscher des Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston haben verglichen, wie häufig leichte Nebenwirkungen bei tatsächlich geimpften und nur scheinbar geimpften Personen auftraten. Von insgesamt 45.380 ProbandInnen über 16 Jahren erhielten 22.578 eine „falsche“ Injektion, der Rest eine echte Impfung. Das Ergebnis: Nach der ersten Impfdosis klagten rund 46 Prozent der tatsächlich Geimpften über Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Kopfschmerzen. Gleichzeitig gaben 35 Prozent der nur scheinbar Geimpften an, an denselben Impfreaktionen zu leiden. Ein klassischer Nocebo-Effekt. Aus dem Verhältnis der beiden Zahlen ermittelten die Forscher, dass bis zu 76 Prozent der angegebenen Impfreaktionen Folge des Nocebo-Effekts sind.2
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Anders bei der zweiten Impfung: Fast 32 Prozent der scheinbar Geimpften klagten über Beschwerden. Bei den tatsächlich Geimpften dagegen 61 Prozent. Insofern ist davon auszugehen, dass sich nach der zweiten Impfung nur die Hälfte der Nebenwirkungen auf den Nocebo-Effekt zurückführen lassen.
Ein Unterschied zeigte sich auch zwischen systematischen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Müdigkeit und lokalen Nebenwirkungen wie Schmerzen, Rötungen oder Schwellungen an der Einstichstelle. Demnach wurden lokale Nebenwirkungen seltener durch den Nocebo-Effekt ausgelöst. Nach der ersten Impfdosis scheint dies nur bei 24 Prozent der Fall gewesen zu sein.
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Auswirkungen des Nocebo-Effekts auf die Impfbereitschaft
Der Nocebo-Effekt stellt Ärzte und Mediziner vor ein Dilemma: Einerseits sind sie verpflichtet, den Patienten über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Doch andererseits könnten sie ihm durch das Wissen und den möglicherweise auftretenden Nocebo-Effekt auch schaden.1
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Mit ihrer Studie wollen die Forscher des Beth Israel Deaconess Medical Center über die Häufigkeit und Entstehung möglicher Nebenwirkungen aufklären. „Unerwünschte Ereignisse nach einer Placebo-Behandlung sind in randomisierten kontrollierten Studien häufig“, sagt die Hauptautorin der Studie, PhD Julia W. Haas, in einer Pressemitteilung. „Das Sammeln systematischer Beweise für diese Nocebo-Reaktionen in Impfstoffstudien ist für die COVID-19-Impfung weltweit wichtig, insbesondere weil die Sorge um Nebenwirkungen Berichten zufolge ein Grund für die Zurückhaltung bei der Impfung ist.“3
Für den leitenden Autor Ted J. Kaptchuk, Direktor des Programms für Placebo-Studien am Beth Israel Deaconess Medical und Professor für Medizin an der Harvard Medical School, steht fest: „Medizin basiert auf Vertrauen. Unsere Ergebnisse führen uns zu der Annahme, dass Information über das Potenzial von Nocebo-Reaktionen in der Öffentlichkeit dazu beitragen könnten, die Bedenken über die COVID-19-Impfung und die Impfscheu zu verringern.“3
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Quellen
- 1. Baethge, Christopher. (2013.) Nocebo: Die dunkle Seite der menschlichen Einbildungskraft. Deutsches Ärzteblatt.
- 2. Haas JW, Bender FL, Ballou S, et al. (2022.) Frequency of Adverse Events in the Placebo Arms of COVID-19 Vaccine Trials: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Network Open.
- 3. Beth Israel Deaconess Medical Center. Placebo effect accounts for more than two-thirds of COVID-19 vaccine adverse events, researchers find. (aufgerufen am 20.1.22)