21. Mai 2022, 8:18 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Eva-Maria Sperger ist Psychotherapeutin und Profi-Trailrunnerin und nutzt körperliche Herausforderungen, um ihren Geist zu stärken und damit Motivationsproblemen und Versagensängsten entgegenzuwirken.
Im Gespräch mit FITBOOK verrät die Bergläuferin ihre besten Strategien, um von körperlichem Training mit mentaler Stärke zu profitieren. Sie gibt Tipps, wie jeder diese in seinem Alltag umsetzen kann.
Übersicht
„Training ist die perfekte Basis, um mentale Stärke zu entwickeln“
FITBOOK: Wie können mentales und körperliches Training miteinander verbunden werden?
Eva-Maria Sperger: „Ganz oft ist die Rede von mentaler Stärke und davon, wie wichtig mentales Training ist. Aber nirgends wird erklärt, wie man das umsetzen soll. Ich glaube, dass Sport in Kombination mit einem mentalen Trainingsprogramm die Möglichkeit bietet, beides zu vereinen. Und zwar indem man sich erst Strategien bewusst macht oder an die Hand bekommt, und diese dann im täglichen Tun umsetzt. Wir haben jeden Tag wahnsinnig viele Widerstände: Motivationsprobleme, die Angst, zu scheitern oder man ist mit Scham konfrontiert. Das sind alles Plattformen, die man mit einer Handlung, dem Sport, verknüpfen kann. Man kann den Sport sozusagen als Basis dafür nutzen, mentale Strategien zu üben und hat dann die Kombination aus beidem. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass der Sport eine dankbare Basis ist, weiterzukommen im Bereich Persönlichkeitsentwicklung.“
FITBOOK: Wie sieht das konkret aus?
Sperger: „Ein Beispiel von mir: Ich habe vor Kurzem ein sehr hartes Training absolviert. 58 Kilometer in sechs Stunden. An dem Tag hat es geschneit, wie sonst den ganzen Winter nicht, und in meinem Kopf kreisten die Gedanken: ‚Ich weiß gar nicht, wie die Bedingungen auf dem Berg sind. Sechs Stunden alleine, dazu Wind und Schneeregen im Gesicht.‘ In so einem Moment findet eine Projektion im Kopf statt. Und das ist für mich der Moment, in dem ich sage: Heute ist mein mentales Training, ich möchte Gelassenheit üben.
Also achte ich darauf: Wann projiziert der Kopf etwas in die Zukunft? Und wie schaffe ich es, immer wieder in den Moment zu kommen? Ich möchte im Moment bleiben, also frage ich mich: Wie schlimm ist es jetzt gerade? Wie schaffe ich es, ruhig zu bleiben? Ich fokussiere mich zum Beispiel auf die Atmung, versuche möglichst wenig gegen den Schnee anzukämpfen, den Körper wahrzunehmen und die Bewegung so zu gestalten, dass es mich möglichst wenig Kraft kostet. Also habe ich in einer Einheit, die mich bewusst überfordert und für die ich bewusst aus der Komfortzone gehen muss, die Möglichkeit, mit diesen mentalen Themen zu arbeiten.“
FITBOOK: Muss das Training immer unbedingt eine Überforderung sein, um mentale Stärke aufzubauen?
Sperger: „Nein. Ich kann auch im täglichen Training versuchen, daraus eine Achtsamkeitsübung zu machen. Zum Beispiel, indem ich ganz bewusst die Natur wahrnehme, auf meine Atmung achte, den Vögeln zuhöre, das Wasser wahrnehme. Man kann das also auch gut in Situationen umsetzen, in denen man nicht an seine Grenzen geht.“
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„Wer seinen Körper besser wahrnimmt, kann ihn besser steuern“
FITBOOK: Was bringt das Im-Moment-sein?
Sperger: „Es gibt Studien, in denen erforscht wurde, mit welcher Strategie Top-Athleten bessere Erfolge erzielen – indem sie sich weg fantasieren oder, indem sie versuchen, mehr Körperbewusstsein aufzubringen. Das mag zunächst paradox klingen, denn in dem Moment hat man ja ganz viele unangenehme Empfindungen. Aber ich schule dadurch, mehr bei mir, in meinem Körper, im Moment zu sein. Wissenschaftlich gesehen ist das die Strategie, die mehr bringt. Weil ich meinen Körper besser wahrnehmen kann, kann ich ihn besser steuern. Gleichzeitig baut man keinen Widerstand gegen den Schmerz auf, sondern eine Akzeptanz. Es ist ein bewusstes Zulassen, es beruhigt den Körper und die Atmung.“
FITBOOK: Gibt es mentale Trainingsstrategien, mit denen man seine Motivation steigern kann?
Sperger: „Die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird, lautet: Wie schaffe ich es, mich zu motivieren? Und ich antworte: Du musst nicht motiviert sein! Wir sind durch Handlung motiviert und durch einen Plan. Motivation ist nicht der Anfang. Manchmal kann ich mich ganz danach richten, was ich machen will und das auch gut machen, und ich habe trotzdem null Motivation. Das kenne ich von meinem eigenen Training. Aber ich habe das Commitment, dass ich es mache. Egal, wie es sich anfühlt.
Motivation lässt sich aber auch dadurch aufbauen, dass man einen konkreten Handlungsplan aufstellt, wie man ein Ziel erreichen möchte.“
Eva-Maria Spergers Tipps, um sportlich aktiv zu werden
Verbindlichkeit schaffen: Konkret würde ich raten, eine Verbindlichkeit zu schaffen, mich beispielsweise zu verabreden mit anderen Leuten, sodass es jemandem auffällt, wenn ich nicht da bin. Einen Trainer buchen oder einen Kurs mit festen Terminen, in einer Gruppe oder mit dem Partner. Im Fitnessstudio zu starten ist sehr schwer, weil es zu jederzeit möglich ist und sich bei dem Überangebot entscheiden zu müssen, macht es noch schwieriger.
Routineketten bilden: Zum Beispiel: Aufstehen, Zähne putzen, zehn Minuten Training. Immer dasselbe zur selben Zeit zu machen – gekoppelt mit anderen Routinen – ist viel einfacher, als sich vorzunehmen, irgendwann heute noch Sport zu machen. Klein anzufangen, mit mindestens zehn Minuten. Das kriegt man auf jeden Fall hin und manchmal wird es dann doch noch ein bisschen länger. So schafft man es, wieder reinzukommen.
Zugänglichkeit: Am besten ist es, sich gleich morgens die Sportsachen bereitzulegen und sie direkt anzuziehen, sobald man nach Hause kommt. Noch besser wäre es, sie mitzunehmen zur Arbeit und gar nicht erst vorher heimzufahren. Denn das ist ein Moment, in dem der Körper eigentlich gelernt hat, runterzufahren. Das macht es schwierig. Ich würde die Tasche ins Auto legen und dann auf kürzestem Weg zum Training fahren. Nicht versuchen, erstmal in die Ruhe zu kommen und dann nochmal losgehen. Das widerspricht dem Wechsel von Anspannung zu Entspannung.
FITBOOK: Welche Rolle spielt Ehrgeiz, wenn ich bestimmte Trainingsziele erreichen möchte?
Sperger: „Ein Leistungsmotiv und das Motiv, konkurrieren zu wollen, hilft uns, zu wachsen. In eine Konkurrenz zu gehen bedeutet, dass alle körperlich daran wachsen. Von daher sollte es auch von einer positiven Seite betrachtet werden, leistungsorientiert zu sein und nicht immer sofort als etwas Negatives gesehen werden. Die Gefahr bei der Leistungsorientierung ist jedoch, wenn Leute dem einzelnen Training zu viel Wert beimessen. Wenn man zu sehr auf die Einzelleistung schaut, ist die Gefahr zu groß, dass man es entweder ganz sein lässt, es abbricht oder sich zu sehr reinsteigert, wie es einem geht. Mein Ansatz ist deshalb: Ich strenge mich nie so richtig an, aber ich arbeite es ab – und zwar immer.“
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FITBOOK: Wie findet man beim Training die optimale Balance zwischen Zuviel und Zuwenig?
Sperger: „Das hat sehr viel damit zu tun, was für eine Geschichte ich habe: Bin ich als Kind schon mit meinen Eltern wandern gewesen oder war ich oft auf dem Fußballplatz? Oder habe ich körperlich noch nicht so viel gemacht? Das fließt da alles mit rein, wie schnell der Körper Dinge umsetzen kann. Für sich selbst zu beurteilen, ob das Maß an Erschöpfung am nächsten Tag nach dem Training so ist, dass ich nun ein, zwei oder drei Tage Pause brauche, ist natürlich schwierig. Und dafür ist Strava eine gutes Mittel, das bei der Beurteilung helfen kann. Da kann ich sehen: Was sagt mir das Tool – bin ich im richtigen Bereich, oder sollte ich mehr oder weniger machen?“
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„Selbstgespräche können Stress hervorrufen – oder motivieren“
FITBOOK: Welche Strategien können noch von Nutzen sein, um beim Training mentale Stärke aufzubauen?
Sperger: „Es ist sinnvoll, seine Selbstgespräche zu beobachten. Wenn ich sehr leistungsorientiert bin, kann es passieren, dass sehr abwertende, negative Gespräche entstehen. Dann identifiziert man sich mit diesen Gedanken und das bedeutet zusätzlichen Stress. Ich habe in dem Moment ohnehin schon ein wahnsinnig hohes Maß an Stress, das ich mir mit Absicht auflaste, und dann mache ich mir noch zusätzlichen Stress. Solche Selbstgespräche können im Körper muskuläre Anspannung hervorrufen und das ist genau das, was man in dem Moment nicht braucht. Eine Strategie ist es, Selbstgespräche zu üben, mit dem Konzept des Selbstmitgefühls.
Beim achtsamen Selbstmitgefühl geht es darum, sehr bestärkende Selbstgespräche zu führen, also sich selbst so zu behandeln, wie man einen guten Freund oder Trainingskumpel behandeln würde. Das kann ich ganz bewusst üben und in schwierigen Situationen nutzen. Ich hasse zum Beispiel 10-Kilometer-Flachstraßen-Läufe. Mein Trainer hat mir dann aufgetragen, meine Selbstgespräche zu beobachten und wie ich mit mir selbst umgehe, was ich mir sage und das ganz bewusst wahrzunehmen.“
FITBOOK: Wie sahen diese Selbstgespräche aus?
Sperger: „Zum Beispiel: ‚Hey, alle anderen sind superschnell, du bist extrem langsam. Warum bist du so langsam? Vielleicht bist du zu schwer für das Ganze!’ Solcher Mist geht mir dann durch den Kopf. Natürlich glaube ich das nicht alles zu 100 Prozent. Aber es tauchen eben alle möglichen Gedanken auf. Wenn ich aber darauf achte, mir das bewusst mache, dann sind das vielleicht Gedanken wie: ‚Hey, voll cool, dass du das machst, obwohl du weißt, dass das eine Schwäche ist. Scham ist okay.’ Natürlich ist es blöd, wenn Leute Erwartungen an einen haben. Aber sich dem auszusetzen ist genau der Weg, der einen am Ende besser macht. Sich selbst zu sagen: Bleib’ bei dir, erinnere dich daran, was dein Ziel ist, mach’ es dir leicht. Einfach freundlich, wohlwollend, ermutigend zu sich selbst sein – das versuche ich in solchen Momenten umzusetzen.“
Hintergrund: Zur Person
Diplom-Psychologin Eva-Maria Sperger leitet eine eigene psychotherapeutische Praxis in München. Mit Mitte 30 begann sie ihre Profi-Karriere im Trailrunning und Ultratrailrunning und gewann 2017 den Deutschen Meistertitel. Außerdem ist sie Markenbotschafterin der Tracking-App Strava.