19. Oktober 2021, 4:01 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Fußwippen, Fingertippen, Herumgezappel – kleine, wiederkehrende Bewegungen anderer treiben manche Menschen in den schieren Wahnsinn. Forscher haben eine Vermutung, was hinter dem rätselhaften Phänomen steckt.
Sie könnten ihrem Gegenüber innerlich an die Gurgel springen, weil dieser ständig mit dem Fuß wippt, mit den Fingern nervös auf den Tisch tippt oder penetrant Kaugummi kaut? Dann sind Sie nicht allein. Wenn einen das Gezappel des Gegenübers ängstigt, zur Weißglut bringt oder auch frustriert, leidet man womöglich unter Misokinesie.
Noch nie davon gehört? Kein Wunder, denn das rätselhafte psychologische Phänomen ist bislang kaum erforscht. Dennoch ist der „Hass auf Bewegung“, wie man Misokinesie ins Deutsche übersetzen kann, in der Bevölkerung weit verbreitet. Aufgrund neuerer Studienergebnisse schätzen Forscher von der University of British Columbia (UBC) in Vancouver (Kanada), dass rund ein Drittel der Bevölkerung auf das Gezappel mit negativen Gefühlen reagiert. Die Wissenschaftler vermuten auch, wieso Wippen, Tippen und Zappeln für manche Menschen kaum auszuhalten ist.
Übersicht
Symptome
Ein Phänomen das schon länger bekannt ist, heißt Misophonie. Hier sind es Geräusche anderer, z.B. beim Kauen, die extremen Stress verursachen. In Anlehnung daran benannte das kanadische Forscherteam um Sumeet Jaswal und Todd Handy die Wut auf das Zappeln mit dem Begriff Misokinesie. Im Fachmagazin „Scientific reports“ erklärt Jaswal hierzu: „Misokinesie – oder der ‘Hass auf Bewegungen‘ – ist ein psychologisches Phänomen, das durch eine starke negative affektive oder emotionale Reaktion auf den Anblick der kleinen und sich wiederholenden Bewegungen eines anderen definiert wird.“ Das könne zum Beispiel sein, wenn jemand mit einer Hand oder einem Fuß herumwackele.1
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Ursachen
Was hinter dem Phänomen steckt, ist bislang nicht ganz klar. Zuerst testeten Jaswal und ihr Team in einem Verhaltensexperiment, ob sich die Probanden generell leicht von Bewegungen anderer Menschen ablenken ließen. Das traf jedoch nicht zu. Die Forscher vermuten, dass ähnliche neuronale Prozesse hinter der Misokinesie stecken wie bei der Geräuschempfindlichkeit Misophonie. Dafür könnten Spiegelneuronen verantwortlich sein, wie Jaswal in einer Presseerklärung mitteilt.2 Diese Nervenzellen werden bei Bewegung aktiv. Sie können jedoch auch aktiviert werden, wenn man die Bewegung eines Gegenübers sieht. Diese wird quasi im Gehirn gespiegelt, daher der Begriff „Spiegelneuron“.
„Diese Neuronen helfen uns, andere Menschen und die Absicht hinter ihren Bewegungen zu verstehen. Sie sind mit Empathie verbunden. Wenn Sie zum Beispiel sehen, dass jemand verletzt wird, können Sie auch zusammenzucken, da sich sein Schmerz in Ihrem eigenen Gehirn widerspiegelt und Sie seine Emotionen erleben und sich in ihn einfühlen“, erklärt Sumeet Jaswal.
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Formen
Ob es verschiedene Formen der Misokinesie gibt, ist bislang unbekannt. Jaswal und ihr Team konnten während der Studienabläufe jedoch beobachten, dass das Phänomen unterschiedlich stark ausgeprägt auftritt. Nach Angaben der Forscher waren Frauen eher vom Gezappel gestresst (43 Prozent) als Männer (28 Prozent). Zudem scheint sich das Phänomen mit zunehmendem Alter zu verstärken.
Diagnose und Behandlung
Die Forschung zur Misokinesie steckt noch in den Kinderschuhen. Konkrete Diagnoseverfahren und Behandlungsmethoden sind demnach noch nicht bekannt. Mitautor der Studie, Todd Handy, wendet sich an Betroffene und sagt: „Sie sind nicht allein. Ihre Herausforderung ist üblich und real. Als Gesellschaft müssen wir anerkennen, dass viele von Ihnen stillschweigend unter dieser visuellen Herausforderung leiden und dass sie Ihre Fähigkeit, zu arbeiten, in der Schule zu lernen und soziale Situationen zu genießen, beeinträchtigen kann.“
Die Forscher betonen, Misokinesie sei zwar ein weit verbreitetes Phänomen. Allerdings werde darüber kaum gesprochen oder in den Medien berichtet. Hoffnung auf ein besseres Verständnis des Phänomens und neue Erkenntnisse darüber biete jetzt die anlaufende Diskussion.
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Wie kamen die Forscher dem Phänomen auf die Schliche?
Das Forscherteam legte in einer ersten Studie rund 2700 Studierenden einen Fragebogen vor. Zuerst wollten die Wissenschaftler erfahren, ob man auf Geräusche wie Knacken der Gelenke, Fingerschnippen oder Kauen sensibel reagiert. Dies bejahten 50 Prozent. Die Studienteilnehmer sollten daraufhin beantworten, ob auch repetitive Bewegungen negative Gefühle verursachen. Von den Befragten gaben 40 Prozent an, dass dies der Fall ist. Eine zweite Studie ergab sogar einen Wert von 60 Prozent. Hier gaben viele Teilnehmer an, zumindest etwas sensibel auf Bewegungen zu reagieren. Vergleichbar lösten Geräusche anderer Menschen bei 70 Prozent Unbehagen aus.
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Quellen
- 1. Jaswal SM, De Bleser AKF, Handy TC (2021). Misokinesia is a sensitivity to seeing others fidget that is prevalent in the general population. Scientific reports
- 2. Lok WY (2021). Do you hate seeing people fidget? New UBC research says you’re not alone. The University of British Columbia