26. Oktober 2020, 19:24 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Auf der Basis von circa 24.000 Schach-Partien, die zwischen 1890 und 2014 stattgefunden haben, gingen Forscher der Frage nach, was diese Daten über das menschliche Gehirn und seine Entwicklung verraten. Dabei machten sie interessante Entdeckungen: Zum einen hat sich die kognitive Leistung in den letzten Jahrzehnten stark verbessert, zum anderen altert das Hirn offenbar langsamer als andere Organe.
Unser Gehirn hat täglich deutlich mehr zu verarbeiten als es noch vor 100 Jahren der Fall war. Neben akustischer und visueller Dauerberieselung muss zwischen Termindruck und Jobstress auch noch der ganz normale Alltag bewältigt werden. Unsere Urgroßeltern wären heute damit wohl restlos überfordert, während wir im Gegenzug mit den körperlichen Anstrengungen von damals vermutlich kaum zurecht kämen. Da wir in den allermeisten Fällen mit den heutigen Herausforderungen recht gut mithalten können, liegt die Vermutung nahe, dass sich das Gehirn dementsprechend angepasst hat. Um das messen zu können, kamen die Wissenschaftler Anthony Strittmatter (Universität St. Gallen), Uwe Sunde (LMU München) und Dainis Zegners (Rotterdam School of Management) auf die Idee, eine seit 1890 bestehende Schach-Datenbank auszuwerten.
Was Schach über unsere kognitive Entwicklung verrät
Gegenüber herkömmlichen kognitiven Tests, die nur eine Momentaufnahme darstellen und obendrein recht abstrakt sind, hat besagte Datenbank einen entscheidenden Vorteil: aus der enormen Datenmenge aus über 125 Jahren Turnier-Schach lässt sich weit mehr ableiten. Genauer handelt es sich dabei um circa 24.000 Partien mit mehr als 1,6 Millionen Zug-für-Zug-Beobachtungen – aufgeteilt auf 4295 Spieler und ihren 4274 Gegnern. Daraus ergeben sich Aussagen über die kognitive Entwicklung jedes einzelnen Spielers sowie über die kognitive Entwicklung in den gesamten 125 Jahren. Die Ergebnisse können laut den Forschern durchaus auch auf Nicht-Schachspieler übertragen werden, da bei der Bewältigung des Alltags ähnliche neuronale Prozesse ablaufen und ähnliche Hirnregionen wie beim erfolgreichen Schachspiel benötigt werden. „Die Qualität eines bestimmten Schachzuges spiegelt somit ein ideales Maß für die Leistung einer anspruchsvollen kognitiven Aufgabe wider, wie sie auf dem heutigen Arbeitsmarkt immer mehr an Bedeutung gewinnt“, so die Autoren der Studie.
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Gehirn-Leistung hat sich in den letzten 125 Jahren offenbar verbessert
Je jünger der Jahrgang, als desto besser erwiesen sich die Leistungen einzelner Schachspieler. „Der kognitive Leistungsunterschied zwischen einem 1870 und einem 1970 Geborenen entspricht ungefähr acht Prozentpunkte.“ Im Klartext: Die jüngere Generationen brachten mehr sogenannte optimale Züge zustande als ihre „Schach-Vorfahren“. Im Laufe der 1990er-Jahre – also zu jener Zeit, in der Heimcomputer Einzug in unser Leben erhielten – machte sich noch einmal ein deutlicher Sprung bemerkbar. So lautet die Schlussfolgerung der Forschenden: „Die Verfügbarkeit neuer Technologien hat augenscheinlich die Leistung von den Spielern verbessert. Außerdem hatten sie dadurch auch mehr Übungsmöglichkeiten.“ Zusammenfassend sind die Menschen des 21. Jahrhunderts kognitiv auf einem höheren Level angelangt. Wir sind also leistungsfähiger im Kopf geworden. Eine Tatsache, die wir offenbar einem zunehmend technologisierten Umfeld zu verdanken haben.
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Mit 35 ist unser Gehirn in Sachen Leistung auf dem Höhepunkt
Die Wissenschaftler blickten auch auf die kognitive Leistungskurve der einzelnen Spieler. Dabei stellten sie fest, dass die Fähigkeiten der meisten Spieler bis zum Alter von 20 Jahren rasant anstiegen, danach verlangsamten sich ihre Verbesserungen. Mit 35 Jahren hatte fast jeder von ihnen seinen persönlichen Höhepunkt erreicht. Die meisten Spieler konnten diese Höchstleistung für etwa zehn Jahre beibehalten, bis diese mit 45 allmählich begann, zurückzugehen. Was daran besonders interessant ist: Während Muskeln, Kraft und Knochen bereits ab 30 mit dem Abbau beginnen, ist im Kopf immer noch was zu holen. Auch offenbart die Schach-Studie, dass das Gehirn wesentlich langsamer altert als andere Organe.