10. Januar 2024, 4:21 Uhr | Read time: 7 minutes
Was brauchen wir für ein langes und gelungenes Leben? „Ein starkes Ikigai“, sagt Mindfulness-Trainer und Autor Motoki Tonn, der im Mai 2023 sein Buch „Das Geheimnis der kleinen Dinge“ veröffentlicht hat. FITBOOK hat den Autor über die japanische Lebensphilosophie und das Geheimnis der Hundertjährigen auf Okinawa befragt.
Von Anna Engberg
Die japanischen Okinawa-Inseln im Ostchinesischen Meer zwischen Taiwan und Japans Festland gelten weltweit als eine der fünf „blauen Zonen“ (Blue Zones), in denen Menschen besonders alt werden. Genauer gesagt werden die Menschen dort mit einer dreimal so hohen Wahrscheinlichkeit über 100 Jahre alt wie hierzulande. US-Autor und Rennradsportler Dan Büttner hat eine Netflix-Serie über den Mythos der Langlebigkeit veröffentlicht und ist dafür bis nach Okinawa gereist. In seiner Dokumentation geht er u.a. der Frage nach: Hat die japanische Lebensphilosophie vom Ikigai etwas mit der hohen Lebenserwartung der Südjapaner zu tun? Das haben wir Autor Motoki Tonn, einen Experten auf diesem Weg gefragt.
Übersicht
- Was hat es mit dem Geheimnis der Hundertjährigen auf sich?
- Aufräumen mit Missverständnissen: Das ist Ikigai
- Historischer Ursprung: Woher kommt die Lehre?
- Tutorial: Wie finde und nutze ich mein Ikigai?
- Aufmerksamkeit als Schlüssel für Ikigai-Momente und Gefühle
- Lebenswert: Die übersehenen Dinge des Alltags entdecken
- Kleines Q&A: Nachgefragt bei Motoki Tonn
Was hat es mit dem Geheimnis der Hundertjährigen auf sich?
Der deutsch-japanische Buchautor und Mindfulness-Trainer Motoki Tonn glaubt, dass Ikigai etwas mit der beschriebenen Langlebigkeit zu tun hat. Neben dem Mindset, das sich hinter der Bezeichnung verberge, seien natürlich auch andere Faktoren wie beispielsweise die Ernährung und das Leben in Gemeinschaft dafür verantwortlich: „Die Leute sind bis ins hohe Alter aktiv in das soziale Leben eingebunden. Es gibt keine Isolierung im Altersheim“, erzählt Motoki: „Statt in Rente zu gehen, gibt es viele Menschen, die über 80 Jahre alt sind und Sportkurse geben, regelmäßig Kuchen für die Gemeinschaft backen und vieles mehr.“
Das führe dazu, dass die Menschen spüren, einen Grund zu haben, um morgens aufzustehen: „Sie haben eine Aufgabe, die ihnen tiefe Freude und Erfüllung bereitet. Dabei geht es nicht um große, angesehene Aufgaben oder eine Karriere, sondern darum, einen Beitrag zu leisten und etwas von Wert zu schaffen, das dem eigenen Leben Bedeutung verleiht: das ganz persönliche Ikigai“, erklärt der Experte.
Auch interessant: Mit diesen Tipps aus der Einsamkeit entkommen
Aufräumen mit Missverständnissen: Das ist Ikigai
Es sei jedoch irreführend anzunehmen, dass unser Ikigai einzig und allein aus der Erfüllung unserer sozialen oder beruflichen Rolle bestehe, stellt der Experte klar und betont: „Ikigai ist unabhängig vom Beruf und hat nichts mit beruflichem Erfolg oder sozialem Status zu tun. Die Karriere kommt einen schließlich nicht im Krankenhaus besuchen.“
Es verwundert daher nicht, dass die meisten gar nicht wissen, was das eigene Ikigai ausmacht. Tatsächlich ist die Ikigai-Lehre in Japan eine Wissenschaft für sich. Sie ruft Autoren und Forscher auf den Plan und Kontroversen gibt es um den Begriff auch. „Eines der größten Missverständnisse, welches ich mit meinem Buch aus dem Weg räumen will, ist die westliche Vorstellung, dass es um das Warum geht. Ikigai handelt weniger davon, was wir tun, sondern WIE wir unser Leben gestalten wollen“, erklärt Motoki Tonn.
Ein weiteres Missverständnis habe mit dem vielen geläufige Ikigai-Diagramm zu tun. „Dieses Purpose-Diagramm stammt von Andrés Zuzunaga und wurde vor gut zwölf Jahren vom Autor und Blogger Marc Winn einfach mit Ikigai überschrieben. Seitdem wurde es millionenfach geteilt und wird fälschlicherweise sogar in IHK Coaching-Ausbildung gelehrt“, klärt Motoki Tonn auf. Mit der japanischen Deutung dieses Begriffes habe es jedoch nichts zu tun.
Auch interessant: 8 Gewohnheiten von Japanern, die das Leben verlängern
Historischer Ursprung: Woher kommt die Lehre?
Wie Motoki Tonn im FITBOOK-Interview ausführt, bedeutet der Begriff Ikigai so viel wie Leben und Wert und wird in der japanischen Literatur schon seit dem 14. Jahrhundert benutzt. Der Autor selbst beruft sich bei seiner Definition auf Mieko Kamiya, die Begründerin der Ikigai-Psychologie. Mitte des letzten Jahrhunderts erforschte die Schriftstellerin und Psychiaterin Ikigai als Lebensthema zwischen Philosophie, Psychologie und Soziologie und ging dabei nicht zuletzt auf Viktor Frankl ein: Insbesondere beschäftigte sie die Frage, wie man nach oder in leidvollen Erfahrungen wieder Sinn und Lebenswert finden kann.
Auch interessant: So gut ist Sport für Ihre Psyche
Tutorial: Wie finde und nutze ich mein Ikigai?
Motoki Tonn ist überzeugt: Ikigai ist die Summe der kleinen und vor allem persönlichen Dinge, für die wir im Leben dankbar sind und die unser Leben mit individuellem Sinn erfüllen. Damit das gelingen kann, brauchen wir Bewusstwerdung über die „Ikigai-Quellen“ in unserem Leben. In seinem im Mai 2023 erschienenen Buch „Das Geheimnis der kleinen Dinge“ stellt der Autor deshalb eine Formel vor, mit deren Hilfe man sich mehr Ikigai für das eigene Leben erschließen kann: Ikigai-Quellen + Ikigai-Bedingungen = Ikigai-Gefühle.
„Hat jemand zum Beispiel eine schöne Begegnung, ist diese oder die Beziehung, die dabei stattfindet, eine potenzielle Quelle für das Ikigai. Der mentale Zustand, den wir dabei erleben, nennt sich Ikigai-kan. Es bezeichnet unseren mentalen Zustand in einem Ikigai-Moment, den Sinn, den wir dabei verspüren“, führt Motoki aus. Um solche Ikigai-Gefühle von Erfüllung, Glück, Freiheit oder Dankbarkeit zu kultivieren, müsse sich jeder deshalb fragen, was solche Wahrnehmungen begünstigt.
Auch interessant: Wer ständig nach Glück sucht, wird unglücklicher
Aufmerksamkeit als Schlüssel für Ikigai-Momente und Gefühle
„In der Zeit, in der wir leben, ist das in der Regel unsere Aufmerksamkeit“, verrät Motoki Tonn. Die Wahrnehmung von Ikigai-Momenten im Hier und Jetzt fördere ihm zufolge Ikigai als mentales Gefühl. „Wenn wir uns für die vermeintlich kleinen Dinge im Alltag öffnen, entdecken wir neue und auch alte Ikigai-Quellen und können Ikigai so in unserem Leben kultivieren.“
Das Ikigai erstrecke sich dabei auf sieben Dimensionen, elementaren Grundbedürfnissen, die es als Basis zu erfüllen gelte, um ein starkes Ikigai im Alltag zu fördern:
- eine konstruktive oder positive Sicht auf die Zukunft
- Resonanz, z.B. in Beziehungen oder in der Natur
- Freiheit
- Selbstverwirklichung
- Werte
- Veränderung
- Wachstum
- und Lebenszufriedenheit.
Daneben seien weitere japanische Grundwerte wie Respekt, aber auch das Vorhandensein von Raum und Zeit wichtige Bestandteile der Ikigai-Philosophie: „Ein übervoller Kalender und ein hektisches Leben sind nicht die beste Ausgangslage, um ein starkes Ikigai zu entwickeln“, meint der Autor. Doch auch wenn das Leben mit Einflüssen und Eindrücken voll sei, könnten wir uns Momente schaffen, in denen wir innehalten und reflektieren. Hilfreiche Fragen seien etwa: Was hat den Tag heute lebenswert gemacht? Was war eine Sache im Alltag, die ich beinahe übersehen hätte, die das Leben doch lebenswert macht.
Auch interessant: »Achtsamkeit sollte man trainieren wie einen Muskel
Lebenswert: Die übersehenen Dinge des Alltags entdecken
Das müssen nicht zwangsläufig große Ereignisse sein: „Es lohnt sich, klein anzufangen“, rät Motoki Tonn: „Vielleicht ist es eine kleine Begegnung oder etwas vermeintlich ganz Selbstverständliches. Sobald wir unsere Augen dafür öffnen, können wir eine neue Dankbarkeit für diese Dinge entwickeln.“ In Beziehungen hilft dem Experten zufolge vor allem aufmerksames und fokussiertes Zuhören: „Anderen Raum zu geben, sie mit ihrem ganzen Wesen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, nach ihrem Ikigai zu fragen und davon zu lernen“, ist seine Devise: „Wer das Gegenüber fragt ‚Was macht dein Leben gerade lebenswert?‘ kann Türen öffnen, auch wenn die andere Person gar nicht weiß, was Ikigai eigentlich ist“, so sein Tipp.
Depressiv ohne es zu merken Anzeichen für eine hochfunktionale Depression
Bayer-04-Leverkusen-Star im Interview Jonathan Tah: »Darum ist es mir wichtig, über meine mentale Gesundheit zu sprechen
Experte im Interview »Achtsamkeit sollte man trainieren wie einen Muskel
Kleines Q&A: Nachgefragt bei Motoki Tonn
FITBOOK: Worum geht es beim Ikigai?
Motoki: „Ikigai handelt von der Frage, was das Leben lebenswert macht. Es ist eine wunderbare Einladung, einmal auszuprobieren, ob nicht doch weniger am Ende mehr ist.“
Wie zum Beispiel?
„Das können kleine oder große Dinge sein: die Karriere oder eine schöne Beziehung, genauso gut ein Tee oder eine Begegnung am Morgen.“
Wie fühlt sich Ikigai an?
„Es kann ein Gefühl von Erfüllung sein oder, beim Betrachten von Natur, ein Gefühl von Glück, Freiheit oder Dankbarkeit.“
Wie finde ich mein Ikigai?
„Fragen Sie sich: Was macht Ihr Leben gerade lebenswert? Und den heutigen Tag? Es geht nicht darum, weitere Dinge anzuhäufen, die für kurze Zeit glücklich machen, sondern nach Dingen zu suchen, die längst in unserem Leben sind – und neue Dankbarkeit für sie zu entwickeln.“