8. Juli 2021, 11:32 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Der Wunsch, schlanker oder sportlicher zu werden, scheitert in der Realität häufig an dem Irrglauben, 24 Stunden am Tag 7 Tage die Woche diesem Ziel unterordnen zu müssen. Hängt die Latte so hoch, es ist meist nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder in alte Muster zurückfallen. Unser reales „Gefahrenfenster“ für unerwünschtes Verhalten ist tatsächlich sehr viel kleiner – etwa zwei Stunden am Tag. Wir müssen es nur entlarven, um am Ende erfolgreich zu sein.
Vielen Menschen unglaublich schwer, im Alltag gesunde Gewohnheiten zu etablieren, sei es mehr Sport oder eine bewusstere Ernährung. In meiner täglichen Arbeit sehe ich Menschen, die immer wieder daran verzweifeln und frustriert von Trend zu Trend springen, weil sie daran scheitern, sich 24/7 anders zu verhalten. Doch aus dem neurozentrierten Training wissen wir, dass Disziplin der falsche Weg ist und man damit das Problem größer macht, als es ist. Es ist gar nicht nötig, sich rund um die Uhr zu disziplinieren – wenn man sein individuelles „Gefahrenfenster“ kennt. Wie man es identifiziert und so erfolgreich die gewünschte Veränderung im Alltag herbeiführen kann, erfahren Sie hier.
Übersicht
Beispiele
- Eine Kundin möchte sich gesund ernähren, isst aber jeden Abend eine Tüte Chips. Sie denkt, sie schafft es nicht, abzunehmen. Sie redet sich ein, dass sie sich immer ungesund ernährt.
- Ein Kunde versucht seit Jahren abzunehmen und probiert immer mal wieder eine Fitness-App, geht ein paar Monate ins Studio oder macht ein Workout zu Hause. Er kommt immer wieder zu der Erkenntnis: Ich schaffe es einfach nicht, kontinuierlich Sport zu machen. Auch wenn ich es mir vornehme, am Ende kommt immer beruflich etwas Dringendes dazwischen.
Warum Disziplin der falsche Weg ist
Sicherlich kann sich die ein oder der andere mit dieser Situation identifizieren. Egal, ob gesunde Ernährung oder Fitness – es scheint einfach unmöglich, sich zu ändern.
Aktuelle Anbieter, sei es digital oder analog, setzen meist auf Disziplin. Wenn man sich nur zusammenreißt und dranbleibt, wird’s schon werden! Meistens klappt das auch für ein paar Wochen – dann ist die Energie, die Motivation und die Ambition aber nicht mehr vorhanden und das Ziel verlangt dem Körper einfach zu viel Energie ab, noch weiterzumachen. Als Folge verfällt man in alte Muster und in die Frustration, es „wieder nicht geschafft“ zu haben.
Zudem zielen viele aktuelle Angebote darauf ab, dass man sofort aktiv wird. Viele müssen sich aber erst einmal mit ihren aktuellen Herausforderungen auseinandersetzen. Sich darüber bewusst werden, wann, wo und wie sie diese Herausforderung im Alltag erleben und welche Optionen sie haben.
Lösungsansätze aus neurozentrierter Perspektive
Betrachten wir das ganze aus neurozentrierter Perspektive: Die meisten Ergebnisse in unserem Leben kommen von unseren Gewohnheiten. Und mehr Erfolg kommt in der Regel daher, dass wir uns mehr erfolgsorientierte Gewohnheiten aneignen, Studien zeigen das eindrucksvoll.123
Führen wir – unter gleichen Bedingungen – immer die gleiche Reaktion aus, führt jede Wiederholung dazu, dass sich eine Gewohnheit aus dieser Reaktion bildet. Folgt also die gleiche Situation mit gleichen Bedingungen, müssen wir irgendwann nicht mehr nachdenken, sondern führen die Reaktion ganz automatisch aus. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das Zähneputzen. Als kleines Kind haben unsere Eltern Wert darauf gelegt, dass wir vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen die Zähne putzen. Dieses Verhalten haben wir so oft wiederholt, dass es zu einem Automatismus geworden ist. Diese Gewohnheit stellen wir nicht mehr infrage, das Zähneputzen morgens und abends kostet uns keine Überwindung mehr.
Das Besondere an Gewohnheiten ist: Sie leben zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort in unserem Leben. Das Zähneputzen findet morgens und abends im Badezimmer statt.
Schauen wir uns also die Beispiele von oben noch einmal mit diesem Wissen im Hinterkopf an:
Beispiel 1: Die Kundin, die es sich zur Gewohnheit gemacht hat, abends nach dem Abendessen beim Fernsehen eine Tüte Chips zu essen:
Ort: Sofa
Zeit: nach 21 Uhr
Beispiel 2: Der Kunde, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, vor und nach seiner Arbeit im Büro schon Mails zu checken und zu beantworten.
Ort: zu Hause
Zeit: zwischen 8 und 9 Uhr morgens und abends
Und genau hier liegt der kritische Punkt: Viele Menschen glauben, sie haben 24 Stunden am Tag Probleme oder schlechte Gewohnheiten. Ich höre immer wieder Sätze wie: „Mir fehlt die Disziplin, ich kann mich einfach nicht zusammenreißen.“ Genau hier setzt das Neurozentrierte Training an und wechselt die Perspektive:
Die Aussage: „Mir fehlt es an Selbstdisziplin“ entspricht einem 24/7 Problem. Das würde bedeuten, dass man rund um die Uhr keine Selbstdisziplin aufbringen kann. Und zwar egal, wofür. Was eigentlich gemeint ist, ist aber etwas anderes:
„Es fällt mir wirklich schwer, die Chips am Abend wegzulassen, nachdem ich den ganzen Tag Stress hatte.“ Oder: „Es fällt mir wirklich schwer, die Übungen morgens oder abends zu machen, nachdem ich den ganzen Tag Stress haben werde oder hatte.“
Diesen Unterschied zu verstehen, ist entscheidend! Ich nenne diese Methode: Entdecke dein Gefahrenfenster.
Wissenschaftlicher Hintergrund
In der Forschung geht man davon aus, dass sich Gewohnheiten ausprägen, weil das Gehirn sich selbst optimiert, um Energie zu sparen. So versucht das Gehirn, alle Routinen in Gewohnheiten zu verwandeln. Dadurch müssen wir weniger darüber nachdenken, was und wie wir etwas machen und unser Gehirn hat mehr Kapazität für wirklich wichtige Dinge. Grundlage hierfür ist immer wieder, dass der Auslöser stattfindet, um die Routine zu starten. Erfolgt dann anschließend eine Belohnung, ist die sogenannte Gewohnheitsschlaufe geschlossen und der Auslöser kann beim nächsten Mal die Routine wieder starten.4567
Wie entdeckt man sein individuelles Gefahrenfenster?
Das Gefahrenfenster gibt den zeitlichen Rahmen vor, in dem Menschen ihre Herausforderung haben.
Tatsächlich besteht das Problem der Kundin aus Beispiel 1 nur Abends zwischen 21 und 23 Uhr. Nach einem langen Arbeitstag hat sie dann nicht mehr die Energie, der Versuchung standzuhalten. Ihr eigentliches Gefahrenfenster sind also 2 Stunden statt 24 Stunden. Und das Problem des Kunden ist jeweils die kritische Stunde vor und nach der Arbeit, in der er Zeit hätte für seine Übungen. Auch sein Gefahrenfenster beläuft sich also eher auf ein bis zwei statt 24 Stunden.
Merke: Es ist wichtig, einen realistischen Eindruck davon zu bekommen, wann genau Sie damit zu kämpfen haben, die Dinge zu tun, die Sie tun wollen. Sei es gesunde Ernährung oder mehr Bewegung in den Alltag einzubinden.
Übung
- Um ihr persönliches Gefahrenfenster zu entdecken, schreiben Sie eine Gewohnheit auf, die Sie derzeit herausfordert
- Kreuzen Sie auf der Zeitleiste die Stunde oder Stunden am Tag ein, zu denen Sie in Bezug darauf gefühlt am meisten herausgefordert sind. Ist die Herausforderung an Wochentagen oder an Wochenenden schwieriger?
- Nachdem Sie nun Ihre Gefahrenfenster identifiziert haben, addieren Sie die Stunden zusammen und schreiben Sie auf, wie groß Ihr Problem tatsächlich ist.
- Identifizieren Sie die Auslöser, die Ihre Gewohnheitsschleife starten.
Beispiel: Das Anschalten des Fernsehers, das Scrollen in Social Media oder das Öffnen des Postfachs. Oder, um bei unseren Beispielen zu bleiben: Die Tatsache, dass die Chipstüte in Griffnähe liegt oder das Hinsetzen auf das Sofa. Und bei Beispiel 2: Das Öffnen des Laptops, automatische Benachrichtigen auf dem Handy, ein unkoordiniertes Zeitmanagement oder kurzfristige Deadlines. - Schauen Sie 1 bis 4 Stunden früher auf der Zeitachse: Gibt es einfach umzusetzende Änderungen, die Sie schneller an Ihr Ziel führen? Das kann zum Beispiel eine klare Tagesstruktur sein.
- Wenden Sie die Zeitachse auf sich an und entdecken Sie Ihre Gefahrenfenster. Diese können sich dann mit den Schritten wie oben beschrieben recht leicht schließen lassen.
- Was haben Sie gelernt? Notieren Sie es!
Bei der Kundin aus Beispiel 1 hat es geholfen, dass sie noch vor ihrem Feierabend einen gesunden Snack gegessen und auf dem Heimweg eine kleine Flasche Wasser getrunken hat. Dadurch fühlte sie sich zu Hause nicht so ausgehungert. Nach dem Essen hat sie eine neue Abendroutine eingeführt: Sie ist abwechselnd mit ihren Kindern oder alleine noch eine Runde spazieren gegangen. Durch die zeitliche Umstrukturierung kam sie nicht mehr in ihr Gefahrenfenster und es fällt ihr nun leichter, ihre Routine aufrechtzuerhalten.
Bei dem Kunden aus Beispiel 2 hatten sich zwei Gefahrenfenster herausgestellt: Morgens und abends waren die Übergänge zwischen Privatleben und Job fließend. Der erste Schritt für die Umstellung der morgendlichen Abläufe: Abends nach getaner Arbeit den Laptop zuklappen und mit dem Stromkabel in die Hülle packen. Das Führte dazu, dass er morgens nicht als Erstes den Laptop aufklappte und loslegte, zu arbeiten. Stattdessen nahm er sich jeden morgen fünf bis zehn Minuten Zeit für eine sportliche Morgenroutine. Wenn er das geschafft hatte, konnte er abends auch noch weiterarbeiten. Wichtig war dann nur, den Laptop wieder wegzupacken, um am nächsten Morgen wieder neu zu starten mit der neuen Routine und dem sportlichen Start in den Tag.
Neue Routinen etablieren sich jetzt von alleine
Mit diesem Perspektivwechsel müssen Sie nur noch kleine und bewusste Entscheidungen treffen, um Ihrem Ziel näherzukommen. Das Schöne: Es wird Ihnen mit jeder Wiederholung leichter fallen und Ihre Entscheidungen bilden neue Gewohnheiten, die routiniert ablaufen ohne viel Anstrengung. Der Rest kommt dann von alleine.
Im Beispiel 1 bedeutet dass, dass kurz vor Feierabend nochmal ein gesunder Snack und dann die Flasche Wasser getrunken wird. Die Routine aus Heimweg, kochen und Abendroutine mit belohnendem Spaziergang schließt die Gewohnheitsschlaufe.
Im Beispiel 2 führt der Auslöser des Laptops zu klappen dazu, dass morgens die sportliche Routine ohne Ablenkung stattfinden kann und als Belohnung die Sporteinheit stattfindet. Der Kunde belohnt sich beispielsweise danach mittlerweile auch mit einem kurzen Spaziergang und einem Espresso.
Fazit
Zu erkennen, dass eine Herausforderung nicht 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche besteht, ist der erste Schritt zur Veränderung. Nehmen Sie sich Zeit und entdecken Sie Ihr Gefahrenfenster. Sobald Sie es einmal erkannt haben, können Sie den Auslöser finden und dann Schritt für Schritt überlegen, was Sie aktiv tun können. Sollte Ihnen dies alleine schwerfallen, sprechen Sie doch mal mit Ihren Liebsten darüber. Sie werden überrascht sein, wie viel Unterstützung Sie bekommen werden. Das eigene Gefahrenfenster zu kennen ist eine große Erleichterung und befähigt Sie, endlich aktiv und gesund zu werden.
Zur Autorin: Luise Walther ist Personal Trainerin und spezialisiert auf neurozentriertes Training. Ein relativ neuer Trainingsansatz, der unterschiedliche Gehirnbereiche aktiv in das Training einbindet. Während im klassischen Fitness-Training immer mehr Wert auf maximale Dehnfähigkeit gesetzt wird, legt sie den Fokus mehr auf die Mobilisierung und Ansteuerung des gesamten Bewegungsumfangs.
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Quellen
- 1. Betsch T. Wie beeinflussen Routinen das Entscheidungsverhalten? Psychologische Rundschau. (2006, abgerufen am 8.7.2021)
- 2. Adloff, F., Jörke, D. Gewohnheiten, Affekte und Reflexivität. Österreichische Zeitschrift für Soziologie. (2013, abgerufen am 8.7.2021)
- 3. Schutkin A. Die Macht der Gewohnheit. Das Geheimnis des Neuen: Wie Innovationen entstehen. (2015, abgerufen am 8.7.2021)
- 4. Duhigg C. Die Macht der Gewohnheit: Warum wir tun, was wir tun. Piper Verlag. (2012)
- 5. Staudt K. Weshalb Routine im Homeoffice essenziell ist. Studentisches Magazin der HAW Hamburg. (2021)
- 6. Schäfer H. (2012) Kreativität und Gewohnheit. Ein Vergleich zwischen Praxistheorie und Pragmatismus. In: Göttlich U., Kurt R. (eds) Kreativität und Improvisation. Springer VS, Wiesbaden.
- 7.Schäfer H. Kreativität und Gewohnheit. Ein Vergleich zwischen Praxistheorie und Pragmatismus. Kreativität und Improvisation. (2012, abgerufen am 8.7.2021)