21. Januar 2021, 12:47 Uhr | Lesezeit: 12 Minuten
Als medienschaffender Millennial hänge ich oft am Smartphone. Zu sagen, Instagram und Co. bestimmen mein Leben, wäre übertrieben. Lebenszeit rauben sie mir aber mehr als genug. Ich will mich von den Algorithmen lösen – und entschließe mich für einen 10-tägigen Selbsttest im „Digital Detox“. Doch bringt der abrupte Verzicht etwas? Und was rät die Expertin?
Dry January, Veganuary und „Digital Detox“: Neujahrsvorsätze stehen bei vielen Menschen gerade ganz im Zeichen des bewussten Verzichts. Und ob Alkohol-Abstinenz, fleischlos oder ohne Instagram, das Ziel ist dabei immer das gleiche: ein besseres und gesünderes Leben. Obwohl ich sonst nichts von solchen Vorsätzen halte, will ich mich in diesem Januar einem „Digital Detox“-Selbsttest unterziehen. Ich möchte zehn Tage ohne soziale Medien auszukommen. Für viele wird das nach lächerlich wenig klingen. Für diejenigen, die selbst kein Instagram, Facebook oder Twitter nutzen, nach einem albernen Experiment.
Soziale Netzwerke und ich – eine Hassliebe
Mit Mitte zwanzig und als „Digital Native“ verbringe ich sowohl privat, als auch beruflich viel Zeit in sozialen Netzwerken – oft mehrere Stunden am Tag. Um beruflich für Artikel zu recherchieren und Stimmungsbilder einzufangen. Um während des Lockdowns in Kontakt mit Freund*innen und Familie zu bleiben, mich inspirieren und aufmuntern zu lassen. Und um an aktuellen Diskussionen teilzunehmen und mich über gesellschaftliche Missstände zu informieren. Dafür liebe und schätze ich soziale Netzwerke.
Was ich an ihnen hasse, ist, welchen Einfluss sie auf meine Psyche haben. Wie ich mich und mein Aussehen unterbewusst mit perfekt inszenierten Frauenkörpern vergleiche, die mir durch den Instagram-Algorithmus täglich unfreiwillig auf dem Silbertablett serviert werden. Auch, dass mich die dort ausgetragenen Diskussionen so unter Druck setzen, dass ich ständig das Gefühl habe, nicht aktivistisch genug zu sein. Es stresst mich, im Minutentakt mit Corona-Nachrichten oder Trump-Ausfällen bombardiert zu werden.
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Instagram und Co. können abhängig machen
Insbesondere hasse ich, wie viel Zeit diese Apps einem rauben, wenn man nicht aufpasst. Schließlich ist genau das die Aufgabe der süchtig machenden Algorithmen: Unsere maximale Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Denn wer Inhalte konsumiert, konsumiert Werbung – Facebook, Google und Co. danken. Eindrücklich erklärt wird das beispielsweise im Netflix-Film „The Social Dilemma“ (deutscher Titel: „Das Dilemma mit den sozialen Medien“). Auch Arte zeigt in der Doku-Reihe „Dopamin“ anschaulich, was Apps wie Youtube, Snapchat oder Instagram mit unserem Gehirn anstellen und wie schnell aus einem normalen Konsum eine Abhängigkeit entstehen kann. Das Bundesgesundheitsministerium erkennt die Social-Media-Sucht mittlerweile als erstzunehmende Störung im Bereich der Online-Süchte an. Grund genug, mein eigenes Verhalten zu hinterfragen und herauszufinden, ob ich bei Verzicht schon an Entzugserscheinungen leide.
Wie funktioniert „Digital Detox“?
Um mich auf meine digitale Enthaltsamkeit vorzubereiten, deaktiviere ich alle sozialen Medien auf meinem Smartphone. Ich schreibe meinem Freundeskreis, dass ich in den nächsten Tagen nicht über Instagram und Co. erreichbar sein werde. Für private Kontakte behalte ich alleine Whatsapp auf dem iPhone. Für den Kontakt mit meinen Liebsten ist das während des Lockdowns essenziell. Um richtig arbeiten zu können, bleibt außerdem das firmenintern genutzte Chat-Programm und das E-Mail-Postfach aktiviert. Trotzdem setze ich mir für die Zeit des „Digital Detox“ im Selbsttest Regeln: Zwischen 22.00 und 8:30 Uhr können mich nur noch meine drei wichtigsten Kontaktpersonen telefonisch erreichen. Jegliche andere Kommunikation ist in dem Zeitraum gesperrt – genauso wie alle anderen Funktionen meines Smartphones.
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Selbsttest: Am Anfang läuft das digitale Entgiften hervorragend
Tag 1: Freitagnachmittag, 17:45 Uhr. Ich sitze über meinen leuchtenden Screen gebeugt und bastle einen letzten Instagram-Beitrag: Ciao, Bye, Adios, in den kommenden Tagen bin ich hier nicht mehr erreichbar. Punkt 17:48 Uhr schließe ich die Anwendung, um sie zu deinstallieren. Drücke das kleine Kreuz am rechten Rand der App und wiederhole den Vorgang bei Twitter, Facebook und Messenger.
Schon nach einigen Stunden stoße ich an den ersten Beinah-Rückfall: Ich schaue eine Fernseh-Show und will unbedingt mehr über die Protagonistinnen erfahren. Der erste Gedanke: Die muss ich auf Instagram suchen! Außerdem will ich wissen, wie mein letzter Beitrag ankam. Gibt es Kommentare? Meine Mitbewohnerin weiß von meinem Experiment und lässt sich nicht darauf ein, kurz ihr eigenes Smartphone zu zücken. Mist.
Stimmung: Ein bisschen unruhig, ein bisschen genervt. Kurzzeitig überlege ich, mich heimlich über meinen Laptop bei Instagram anzumelden, widerstehe aber der Versuchung. Alles in allem bin ich aber entspannt, ich kann gut einschlafen und habe nicht das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Na ja, sind ja eh alle im Lockdown.
Tag 2 und 3: Den Samstag verbringe ich mit meiner Freundin in der Natur. An soziale Netzwerke denke ich erst, als sie mir ungefragt einen Nachrichtenverlauf auf Instagram unter die Nase hält. Mist, zählt das schon als Schummeln? Heute habe ich mein Smartphone deutlich weniger als sonst in der Hand. Cool, dass das so schnell geht! Der Sonntag gestaltet sich ähnlich. Alleine, als ich Gerüchte über die mögliche Scheidung von Kim Kardashian und Kanye West höre, juckt es mich in den Fingern. Dazu geistern doch bestimmt schon lustige Memes durch das Web! Hin und wieder ertappe ich mich, wie ich auf meinem Display automatisch dahin tippe, wo gestern noch die sozialen Medien waren. Unterbewusst will mein Gehirn in alte Muster verfallen.
Stimmung: Alles in allem entspannt, mir fehlt nichts.
Wer braucht schon Social Media?
Tag 4: Montagmorgen, pünktlich um 9:00 Uhr starte ich meinen Arbeitsalltag aus dem Homeoffice. Bis zur Mittagspause arbeite ich konzentriert. E-Mails schreiben, Themenrecherche… die Zeit vergeht wie im Flug. Unter normalen Umständen hätte ich schon mindestens fünfmal meine Social-Media-Kanäle gescheckt. Ich wäre für ein paar Minuten abgelenkt gewesen, hätte meine Konzentration verloren. Das ist heute nicht der Fall. Auch den restlichen Tag schaue ich selten auf mein Smartphone. Am Abend habe ich kein Bedürfnis, das Ding mit ins Schlafzimmer zu nehmen (sonst liegt es immer direkt neben mir auf dem Nachttisch). Da ich einen Radiowecker habe, der mich weckt, „finde“ ich mein Handy erst am nächsten Morgen wieder.
Stimmung: Konzentrierter als sonst. Statt unnötiger Pausen, in denen ich durch Apps scrolle, mache ich zwischenzeitlich ein paar kleine Dehn- und Kraftübungen, um den Kopf freizubekommen. Das funktioniert prima.
Tag 5 bis 7: Die nächsten Tage verlaufen ohne allzu viele Gedanken an Social Media. Ich merke, wie sehr ich die Smartphone-Pause gebraucht habe. Ich fühle mich ausgeglichener und habe auch das Gefühl, mir nach Feierabend mehr Zeit für mich zu nehmen. Wo sonst gerne mal eine halbe bis ganze Stunde für sinnlosen Social-Media-Konsum draufging, nutze ich meine abendliche Freizeit nun für analogere Hobbys wie Sport oder Lesen. Wenn ich eine Serie oder einen Film schaue, bin ich nicht durch einen zweiten Bildschirm abgelenkt. Außerdem nehme ich mir mehr Zeit, ausführlich auf WhatsApp-Nachrichten von Freund*innen zu reagieren.
Stimmung: Social Media? Wer braucht das schon?
Wendepunkt: Bin ich doch abhängiger von Instagram als gedacht?
Tag 8 bis 10: Hatte ich bisher keine Entzugserscheinungen, trifft mich die Versuchung am Freitag wie ein harter Schlag. Beruflich muss ich mich mit Instagram und Facebook beschäftigen. Sofort machen mich die vielen Nachrichten auf beiden Plattformen nervös. Ich will alles lesen, was ich verpasst habe und halte mich gerade so davon ab, zusätzlich noch durch die jeweiligen Feeds zu scrollen. Am Wochenende habe ich mich wieder unter Kontrolle. Ich benutze mein Smartphone nur, um Musik zu hören.
Stimmung: Meine Gedanken kreisen plötzlich viel öfter um Facebook und Instagram, obwohl ich mich nur kurz mit den Apps beschäftigt habe. Um mich abzulenken, öffne ich viel zu oft meine E-Mail-Postfächer. Ich merke, wie mein Gehirn geradezu nach Input in Form von Benachrichtigungen lechzt. Gegen Abend habe ich das zwar immer wieder im Griff, trotzdem verspüre ich das Bedürfnis, wenigstens mal wieder eine Instagram-Story zu posten.
Tag 11: Heute lade ich mir zumindest Instagram wieder auf mein Smartphone, weil ich es in den kommenden Tagen beruflich brauche. Und wow, sofort hänge ich wieder viel öfter vor dem Bildschirm als die vergangene letzte Woche. Nach der Arbeit schaue ich mir die Instagram-Storys von Freund*innen an und habe das Smartphone bis spät am Abend in der Hand, was ich die vergangene Woche komplett vermieden habe.
Stimmung: Ich muss mich regelrecht stoppen und an meine Vernunft appellieren, um Instagram jedes Mal schnell wieder zu schließen. Bei Facebook fällt mir das einfacher. Meine Hand wandert heute generell viel öfter zum iPhone, als in den vergangenen Tagen. Ich fühle mich unkonzentrierter. Am Abend habe ich prompt Schwierigkeiten beim Einschlafen – was zu einem erheblichen Kaffeekonsum am nächsten Morgen führt.
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Mein persönliches Fazit: Instagram und Co. haben mich immer noch im Griff
Die zehn Tage radikaler Verzicht im Rahmen des Digital Detox Selbsttests haben mir wahnsinnig gut getan. Ich habe meine tägliche Bildschirmzeit am Smartphone um 33 Prozent reduziert, statt 2:42 Stunden nur 1:48 Stunden daran verbracht. Das macht fast eine ganze Stunde Zeitgewinn aus! Ich fühlte mich weniger gestresst, dafür hatte ich das Gefühl, mich selbst wieder besser wahrzunehmen. Mit Menschen, die mir wichtig sind, hatte ich ausreichend Kontakt. Gefehlt hat mir nichts. Dementsprechend finde ich es erschreckend und frustrierend, wie sehr mich Instagram schon am ersten Tag nach dem Social-Media-Verzicht wieder in sein Bann gezogen hat.
Was ich aus dem „Digital Detox“-Selbsttest mitnehme
Facebook und Twitter haben mir in den zehn Tagen nicht gefehlt. Ich werde beide Anwendung auf unbestimmte Zeit deaktiviert lassen. Für Instagram habe ich mir ein zeitliches Pensum von 30 Minuten für privates Scrollen gesetzt – das kann man in der App selbst zum Glück einstellen. Besonders geholfen hat mir die Smartphone-Sperre am Abend. Diese will ich weiterhin behalten und das Gerät konsequent aus dem Schlafzimmer verbannen. Die zehn Tage haben mir außerdem gezeigt, wie wichtig es ist, das Umfeld in die eigenen Pläne einzuweihen.
Weil mein Freundeskreis von meinem Experiment „Digital Detox Selbsttest“ wusste, wurde ich ausschließlich über WhatsApp kontaktiert. Für die Zukunft möchte ich mir angewöhnen, das Smartphone während des Arbeitens in ein anderes Zimmer zu legen, sofern ich keine wichtigen Anrufe erwarte. Private Mails checken möchte ich auf zwei feste Zeiten am Tag reduzieren, beispielsweise einmal morgens und einmal abends. Auch Ablenkungsmanöver wie unnötiges Scrollen will ich durch andere Beschäftigungen ersetzen: Aus dem Fenster schauen, eine Yoga-Übung einschieben oder fünf Minuten um den Block laufen, sind bessere Verschnaufpausen für das Gehirn.
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Das sagt die Expertin zum „Digital Detox“-Selbsttest
Regine Frener forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienpsychologie an der Universität Hohenheim. Sie findet „Digital Detox“ persönlich sinnvoll. Zusätzlich rät die Expertin aber dazu, dauerhaft bestimmte Routinen im Umgang mit sozialen Medien zu etablieren, anstelle immer mal wieder ganz abzuschalten und sich danach wieder vollkommen hinzugeben. So geht die Medienpsychologin auch privat vor: „Ich habe mir vor Langem angewöhnt, morgens in der Bahn nie auf das Handy zu schauen, sondern ein Buch zu lesen. Dann komme ich deutlich entspannter im Büro an“, erklärt sie.
Damit der regelmäßige und oft intuitive Konsum von Social Media verlernt wird, hilft es, Trigger zu eliminieren, rät die Wissenschaftlerin. Beispielsweise, indem App-Verknüpfung direkt gelöscht werden, Push-Benachrichtigungen ausgeschaltet sind, Mails nur auf dem Laptop und nicht auf dem privaten Handy empfangen werden können. Ein regelmäßiges und kritisches Aussortieren von abonnierten Kanälen, die einem nichts Gutes bringen, sei ebenfalls hilfreich für die Psyche, erklärt Frener.
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Frener appelliert trotzdem, Mediennutzung – auch, wenn es reine Unterhaltungsmedien sind – nicht per se als schlecht darzustellen. Denn: „Selbst wenn man viel Zeit mit gedankenlosem Scrollen verbringt, ist das nicht zwingend schlecht. Andere lenken sich mit etwas anderem ab, da hat jeder sein ‚Outlet‘.“ Gerade jetzt sei die Online-Kommunikation mit den Liebsten ein ganz essenzieller Teil der Beziehungspflege. Das stärke wissenschaftlich nachweislich den Aufbau sozialer Unterstützung und das Gefühl von Verbundenheit, erklärt die Medienpsychologin. Alleine die Menge macht also das Gift – wie bei so vielem.
Daumenregeln besagen übrigens, dass man ein Verhalten 21 Tage ausführen muss, damit es zur Gewohnheit wird. Ich war mit meinen zehn Tagen also gerade einmal bei der Hälfte angelangt. Gebracht hat es mir trotzdem etwas und ich würde es auch jeder*m anderen empfehlen.