16. April 2019, 7:03 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Ellas Leben war von Pflichten und Arbeit geprägt – das Gefühl, etwas tun zu müssen, ist so tief in ihr verwurzelt, dass sie bis heute gar nicht anders kann. Noch heute, mit 106 Jahren, macht sie ihr Bett selbst, kocht und putzt ihre geliebte Wohnung in Berlin. Im Interview mit FITBOOK offenbart sich aber noch eine andere Fähigkeit, die sie zu beflügeln scheint: Der unbedingte Wille, fröhlich zu sein.
Der Weg zu Ella führt über einen Ehrenamtlichen der Stadt Berlin. Ella kennt Herrn Bösner seit 30 Jahren – seit dem Tag, als er ihr das erste Mal im Namen des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf zum Geburtstag gratulierte. Seither bringt Herr Bösner jedes Jahr am 21. April die Blumen rum und ist inzwischen Ellas engster Vertrauter. Wenn es seine Zeit zulässt, plaudern sie über dies und das und Ella erzählt ihm ihre neusten Witze. Wenn es nach ihr ginge, dürfte ihr Herr Bösner viel häufiger kommen. Sie hat nämlich viele Witze zu erzählen.
Ella ist 106 Jahre alt. Damit ist sie die älteste Bewohnerin ihres Bezirks und zählt, schätzt Herr Bösner, zu den zehn ältesten Menschen Berlins. Ihr selbst ist das völlig schnuppe, sie fühlt sich meistens nämlich jünger. „Jedenfalls mache ich noch alles mit“, berichtet sie lächelnd.
Ella (106) liebt ihr Zuhause
Seit einem halben Jahrhundert lebt die zierliche Frau allein zur Miete in einer kleinen Altbau-Wohnung zwischen Vorderhaus und Seitenflügel mit Blick zum Hinterhof – in einem sogenannten Berliner Zimmer. Betritt man Ellas Reich, hat man das Gefühl, an ein 60er-Jahre-Filmset katapultiert zu werden: cremefarbener Kachelofen, Blumentapete, Spiegelkommode, gehäkelte Tagesdecke, selbst die Küchenschränke sind original aus dieser Zeit. Bei der 106-Jährigen ist die Zeit stehengeblieben – nur Ella selbst ist zeitlos.
Nach ihrem Einzug in den 60ern hatte Ella an einer Stelle im Innenhof, die von ihrem Fenster aus gut einsehbar ist, eine Schnittrose in die Erde gepflanzt. Über die Jahrzehnte ist daraus ein üppiger Rosenstrauch geworden, der zu Ellas großer Freude bald wieder rosa blühen wird.
„Ich hänge an meinem Zuhause. Der Balkon ist mein Alles. Der ist so schön! (…) Da sitze ich bis spät abends, so lange, wie es mir gefällt.“
Ella macht ihr Bett selbst, kocht und putzt
Vormittags kommt der Pflegedienst vorbei und bringt Lebensmittel. Ständig wechselnde Personen, die zu Ellas Bedauern meistens keine Zeit für Plauderei haben und nach einer Viertelstunde in der Regel wieder weg sind – aber „immerhin den Fußboden putzen, wenn es da was zu putzen gibt“. Denn tief bücken kann sie sich nicht mehr.
„Das will ich Ihnen sagen: Ich kann noch so krank sein, dass mir alles sehr schwerfällt. Aber ich bleib’ nicht im Bett. Ich muss aufstehen. Ich koche, putze. Ich muss das Gefühl haben, ich habe was gemacht.“
Sie kann nicht anders, als fröhlich zu sein
Ella hat bis heute nicht verlernt, sich wie ein Kind über die kleinen Dinge zu freuen. Jemand bringt ihr Kekse oder ein Blümchen mit? Ella strahlt. Die Sonne scheint auf ihren Balkon? Ella genießt es von früh bis spät. Der nette Mann vom Pflegedienst spaziert mit ihr Hand in Hand die 300 Meter zum Supermarkt? Ella freut sich drei Tage vorher drauf. Ihre Enkelkinder haben geschrieben? Ella ist überglücklich.
„An sich war ich immer ein fröhlicher Mensch, auch heute noch. Ich kann nicht anders.“
Schicksalsschläge pflastern Ellas Weg
Die Familie ist für Ella wichtig – obwohl sie 7000 Kilometer entfernt lebt. Der einzige Sohn ist nämlich Anfang der 70er nach Calgary, Kanada, ausgewandert – und bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Dann starben zwei Enkelkinder – eines kurz vor seinem 20. Geburtstag.
„Das war grauenvoll. (…) Es gibt in diesem Fall wohl nichts Schlimmeres, als wenn die Kinder vor den Eltern gehen. Das ist ein Schlag, den man kaum erträgt.“
Mit dem Tod musste Ella schon als Kind lernen umzugehen. Als sie sechs war, starb ihr Vater, beim Tod der Mutter war sie 22. Ella musste alle ihre sieben Geschwister beerdigen – zuletzt 2015 ihre Schwester, die 98 Jahre alt wurde und zu der sie ein besonders enges Verhältnis hatte.
Wie geht sie damit um? Wie bewältigt sie die Trauer? Ella nimmt Dinge, die sie nicht ändern kann, stoisch an und lebt einfach weiter. „Wenn man sich das Leben nicht allzu schwer machen will, muss man lachen, worüber man eigentlich nicht mehr lachen kann“, sagt sie und prostet Herrn Bösner zu:
„Jetzt trinken wir erstmal ein Schlückchen, ich fahr euch dann alle heim!“
Ein Leben geprägt von Pflichten und Arbeit
Ella hat immer hart gearbeitet – heute lebt sie von Grundsicherung. Mit 14 ging sie von der Schule ab, um als Hausmädchen in Stellung zu gehen, wie es damals hieß. Dort wurde neben Kost und Logis nur ein besseres Taschengeld bezahlt. Später hat sie alle möglichen Jobs angenommen: Sie verpackte Kleidung, sortierte am Fließband, reinigte Schankanlagen – da landete nicht viel in der Rentenkasse.
Große Sprünge machen konnte Ella noch nie, auch heute nicht. 100 – oder bald 107 – zu werden, ist eben keine Frage des Geldbeutels. Dafür ist sie der lebende Beweis.
„Kraft gab mir meine Familie. (…) Ich habe sehr gute Eltern gehabt. (…) Und ich bin gerne arbeiten gegangen.“
Lebenslauf
„Ella wird am 21. April 1912 in Geglenfelde/Westpreußen (heute Polen) geboren. Sie ist die Jüngste von acht Geschwistern. Als Ella sechs Jahre alt ist, stirbt der Vater. Mit 14 verlässt sie Schule und Heimat, um in Berlin als Hausmädchen einer wohlhabenden Familie anzuheuern. Man ist streng: Nur alle zwei Wochen darf Ella bis 20 Uhr ausgehen. Mit 22 verliert Ella ihre Mutter. Sie heiratet und bekommt einen Sohn. Nach dem Krieg wird sie von ihrem Mann verlassen, Ella ist alleinerziehend. Später hat sie einige Beziehungen („ich war keine Kostverächterin“), heiratet aber nicht wieder. Ella, die keine Ausbildung hat, arbeitet bis zum Renteneintritt mit 65 Jahren hier und da: als Haushaltshilfe, in Fabriken, zuletzt in einem Kleidergeschäft. Seit den 60ern lebt Ella allein in einer kleinen Wohnung in Berlin-Steglitz, die sie nur noch selten verlässt.“–
Ernährung
„Als Haushaltshilfe hat Ella kochen gelernt – und davon profitiert sie noch heute, sagt sie. Am liebsten isst sie Suppen, vor allem Hühnerbrühe. Auf eine explizit gesunde Ernährung hat sie nie besonders geachtet. Es gab das, was sie von zu Hause gewohnt war: Kartoffelsuppe, Eier, Brot, Gemüse, Fleisch – am liebsten Hähnchen. Ella hat auch gerne gebacken: „Es gab wohl keinen Sonntag ohne Kuchen bei mir.“ Heute hat sie nicht mehr so einen großen Appetit, muss auch immer wieder ans Trinken erinnert werden. “–
Bewegung
„Als junges Mädchen tanzte Ella leidenschaftlich gerne. Bewegung war immer ein Thema in ihrem Leben: Für Wanderurlaube ging es an die typischen Ziele von West-Berlinern mit wenig Geld: ins Fichtelgebirge oder in den Frankenwald. Heute kann sie noch am Stock gehen, auch die Treppe kommt sie noch eigenständig herunter. Freitags begleitet sie ein Pflegedienstmitarbeiter zum Supermarkt. Diese Spaziergänge genießt Ella.“–