2. April 2021, 18:14 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Als die Diagnose feststeht, ist Vanessa zehn Jahre alt. Das Wort Kinderdemenz lässt die Welt ihrer Eltern zusammenbrechen. Wie ist das Leben mit so einer Krankheit? Ihre Mutter erzählt.
Wie eine kleine Primaballerina bewegte sie sich. Damals war Vanessa Kuhl aus Petersberg in Sachsen-Anhalt vier Jahre alt und liebte es, Ballett zu tanzen. „Sie war ein fröhliches und aufgewecktes Kind“, beschreibt Madeleine Kuhl ihre Tochter. Später, in der Schule, zeigte sich Vanessa wissbegierig und fleißig. Als sie in der zweiten Klasse war, fing es an.
Die Achtjährige rieb sich immer wieder die Augen, schrieb über Zeilen. Da ist nichts, beruhigten Kinderärztin und Augenarzt. Vanessa bekam eine Brille. Doch ihre Sehkraft nahm über die Jahre weiter ab. Sie war zehn, als die Diagnose feststand: Kinderdemenz NCL. Heute ist Vanessa 19. Sie ist erblindet und sitzt im Rollstuhl.
Gendefekt lässt Nervenzellen absterben
NCL – diese drei Buchstaben stehen für Neuronale Ceroid Lipofuszinose. „Dabei handelt es sich um eine Stoffwechselkrankheit, bei der bei Kindern wegen eines genetischen Defekts die Nervenzellen zunehmend absterben“, erläutert Prof. Heymut Omran, Direktor der Kinderklinik am Universitätsklinikum Münster.
Bei betroffenen Mädchen und Jungen nimmt nicht nur die Sehkraft ab, sondern zunehmend auch die Fähigkeit, zu gehen und zu denken. Sie bekommen epileptische Anfälle, verlernen das Sprechen und sind eines Tages komplett bettlägerig. Irgendwann versagen auch die lebenswichtigen Organe im Körper. „Betroffene sterben leider oft vor dem 30. Lebensjahr“, sagt Omran.
Madeleine Kuhl mag sich das gar nicht vorstellen. „Vanessa geht es momentan gut, sie lacht viel“, erzählt die 41-Jährige. Normalerweise ist ihre Tochter in einer Tagesfördergruppe, wo sie kleine Aufgaben wie etwa Besteck abtrocknen erledigt. Wegen Corona bleibt sie aktuell zu Hause und wird in der Zeit, in der ihre Eltern bei der Arbeit sind, von einem Pflegeteam betreut.
Vanessa legt viel Wert auf ihr Äußeres. Sie fordert ein, dass ihr langes Haar top-frisiert wird und sie schick angezogen ist – so fühlt sie sich wohl. „Wer Vanessa nicht kennt und sie an einem Tisch sitzend sieht, dem fällt auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an ihr auf“, sagt ihre Mutter.
Auch interessant: Zahl der Demenzkranken hat sich verdoppelt
NCL gehört zu den Seltenen Erkrankungen
Vanessa leidet an der juvenilen Form von NCL. Es ist die häufigste der 13 NCL-Formen, die sich unter anderem danach unterscheiden, in welchem Alter sich die Symptome bemerkbar machen. Die Krankheit wird autosomal-rezessiv vererbt. „Das bedeutet, dass beide Elternteile einen Gendefekt in sich tragen“, erklärt Omran. Die Wahrscheinlichkeit, dass das gemeinsame Kind NCL bekommt, liege dann bei 25 Prozent.
NCL gehört zu den Seltenen Erkrankungen. Deutschlandweit gibt es schätzungsweise 700 Kinder mit einer NCL, weltweit sind es rund 70.000. Wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind, gilt eine Erkrankung in der EU als selten. Laut Gesundheitsministerium gibt es mehr als 6000 Seltene Erkrankungen. Es wird geschätzt, dass allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen mit so einer Krankheit leben. Der Weg zur Diagnose ist für sie oft eine Odyssee. Auch die Forschung und die Breite der medizinischen Versorgung sind häufig erschwert – was vor allem auch wirtschaftliche Gründe hat.
Leidvoller Weg zur Diagnose
,Eben weil nur vergleichsweise wenige Kinder NCL haben, ist das Krankheitsbild bei vielen Ärzten kaum bekannt – bis zur Diagnose ist es daher oft ein weiter und vor allem ein leidvoller Weg.
Eine Erfahrung, die auch Vanessa als Kind machen musste. Statt mit Gleichaltrigen zu spielen und herumzutoben, reiste sie mit ihren Eltern, die die Ursache für die nachlassende Sehkraft ihrer Tochter herausfinden wollten, von einem Spezialisten zum nächsten. „Vor einem Weihnachtsfest bekamen wir von Vanessa einen Wunschzettel, auf dem stand: ‚Ich habe keine Wünsche – außer: bitte bitte vorerst keine Arzttermine mehr’“, erzählt ihre Mutter. Die Eltern willigten ein.
Irgendwann, inzwischen war Vanessa zehn Jahre alt, las die Kinderärztin in einer Fachzeitschrift etwas von NCL. Der Medizinerin kam ein Verdacht. „Sie machte sofort für uns einen Termin in der Hamburger Uniklinik und schickte uns dorthin mit der Verdachtsdiagnose NCL“, sagt Madeleine Kuhl.
Auch interessant: Stellt ein Computer bessere Diagnosen als ein Arzt?
„Unsere Welt brach zusammen“
Die Kinderklinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gilt laut NCL-Stiftung als eines der weltweit führenden Zentren im Bereich Kinderdemenz. Vanessa wurde untersucht. Die Auswertung zog sich über Wochen hin. Eine Ersteinschätzung der Ärzte war: Das Kind sei geistig und körperlich viel zu fit, um eine NCL-Betroffene zu sein. „An diesen Strohhalm klammerten wir uns“, erzählt die Mutter.
Die kleine Familie fuhr heim. Und dann, eines Tages, passierte es: Vanessa bekam aus heiterem Himmel einen epileptischen Anfall. Kurze Zeit später stand auch die Diagnose der Hamburger Spezialisten fest: NCL, juvenile Form. „Unsere Welt brach zusammen, wir waren völlig verzweifelt“, erinnert sich Madeleine Kuhl.
Auch interessant: Wie bekommt man eine Psychotherapie – und wie läuft sie ab?
Erbkrankheit Sanfilippo-Syndrom – wenn schon Kleinkinder an Demenz erkranken
Viele Eltern schwören drauf Wie sinnvoll ist Osteopathie bei Babys?
Teufelskreis droht Immer mehr Kinder leiden an Kopfschmerzen
NCL ist nicht heilbar
NCL kann nicht geheilt werden. Möglich ist nur, Symptome wie die epileptischen Anfälle oder Krämpfe zu behandeln oder andere Symptome zu lindern. Vanessa nimmt pro Tag elf Medikamente, unter anderem ein Antidepressivum. „In manchen Nächten hat sie schlimmste Albträume und Halluzinationen“, erzählt die Mutter. Sie wiegt ihre Tochter dann in den Armen und tröstet sie.
Niemand soll mehr an NCL sterben müssen, diesem Ziel hat sich die gemeinnützige NCL-Stiftung verschrieben. Sie fördert die Forschung rund um Medikamente und Therapie und hat sich auch zum Ziel gesetzt, Kinder- und Augenärzte zu informieren – um die Krankheit bekannter zu machen, den Weg für eine frühe Diagnose zu ebnen und Betroffenen eine mitunter jahrelange Odyssee von Arzt zu Arzt zu ersparen.
„Wenn die Diagnose feststeht, dann wirft das eine Familie erstmal um“, sagt Madeleine Kuhl. Was Betroffenen nicht zuletzt helfen kann, ist, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. „Der Austausch mit anderen, die das gleiche Schicksal haben, hilft unglaublich.“
mit Material von dpa