5. Oktober 2020, 11:53 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Das gesellschaftliche Leben hat sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie völlig verändert. Während die einen das mit den Abstandsregeln nicht zu ernst nehmen, bereitet anderen bereits die Vorstellung einer Umarmung Alpträume. Und das ist wörtlich zu verstehen.
Schlaf- und Traumforscher wollen Belege dafür haben, dass die Corona-Krise auch unsere Nächte stark beeinflusst hat. Darunter Wissenschaftler der Universität Helsinki, die jüngst ihre Erkenntnisse zum Thema im Fachblatt „Frontiers in Psychology“ veröffentlichten. Demnach sind Albträume seit Beginn der Corona-Pandemie viel verbreiteter.
Studie zu Träumen in der Corona-Krise
811 Freiwillige hatten sich im April dieses Jahres zur Teilnahme an der Traumstudie bereit erklärt. Als Leiterin und Autorin fungierte die Psychologin Anu-Katriina Pesonen. Wie sie erklärte, ist Träumen normalerweise eine sehr private Sache. „Aber wenn sich die Umwelt so drastisch ändert, scheinen viele Menschen ähnliche Assoziationen damit in ihren Träumen zu haben.“
In den geschilderten Albträumen seien immer wieder verlorene Pässe, geschlossene Grenzen oder überfüllte Orte vorgekommen. Genauso: Händeschütteln oder Umarmungen, die wegen der Abstandsregeln als Fehlverhalten empfunden wurden. Auch der Tod spielte immer wieder eine Rolle. Die Schlagworte aus den Traumberichten ließen die Forscher von einem Algorithmus zu Themengruppen sortieren. In einem Drittel dieser Themengruppen erkannten die Forscher Albträume mit direktem Pandemie-Bezug.
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Schlafen während des Lockdowns
Einen weiteren Teil der Studie bildeten persönliche Berichte von mehr als über 4000 Finnen dazu, wie sie während des Lockdowns geschlafen haben wollen. Mehr als ein Viertel gab an, öfter Albträume gehabt zu haben als zuvor. Rund ein Drittel wachte häufiger auf. Andererseits schlief mehr als die Hälfte insgesamt länger, etwa weil viele von zuhause aus arbeiteten. Wenig überraschend litten insbesondere jene Menschen stärker unter Albträumen, die angaben, ihr Stresslevel habe sich während der Corona-Pandemie erhöht.
Andere Länder, andere Träume?
Michael Schredl ist Schlafforscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Er mahnt, die Ergebnisse der finnischen Untersuchung nicht überzubewerten. „Es gibt auf jeden Fall Leute, die Covid-Träume haben“, räumt er ein, „aber wie viele das sind, kann man aufgrund dieser Studie nicht sagen.“
Zumal die Teilnehmer aktiv auf eine Annonce in der Zeitungsartikel reagiert hatten. Das verzerre die Zahlen. „Es haben sich wahrscheinlich die Leute gemeldet, die auch Probleme haben“, vermutet Schredl.
Bessere Erinnerung an Träume
Für aussagekräftiger hält Schredl die Daten seiner eigenen Traum-Studie. Diese veröffentlichte er mit einem US-Kollegen im September im Fachjournal „Dreaming“. Anfang Mai hatten sie rund 3000 US-Amerikaner von einem Meinungsforschungsinstitut befragen lassen. Rund 30 Prozent gaben an, sich in der Corona-Krise verstärkt an ihre Träume zu erinnern. 15 Prozent erlebten schlechtere Träume – 8 Prozent aber bessere. Je mehr die Befragten von der Pandemie betroffen waren, desto unangenehmer wurden auch ihre Träume.
Rund 250 Befragte berichteten von konkreten Corona-Albträumen. Am häufigsten ging es dabei um Maßnahmen und die Angst vor der Krankheit selbst. „Wir konnten zu einem sozialen Ereignis gehen, aber ich war die ganze Zeit besorgt, dass wir Social Distancing betreiben sollten“, beschrieb etwa ein Teilnehmer. Oder: „Ich wache auf und erinnere mich, dass jemand, den ich liebe, am Coronavirus gestorben ist und fühle mich schuldig, dass es nicht mich getroffen hat.“
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Angst und Schuldgefühle wegen Corona
Die Wiener Psychologin und Traumforscherin Brigitte Holzinger überrascht das nicht. „Wir passen uns an diese Krise an“, erklärt sie, „so wie Träume uns auch allgemein helfen, mit Krisen besser fertig zu werden.“ Ihre eigene, noch unveröffentlichte Forschung zu Corona-Träumen weist in die gleiche Richtung. Die Zahlen der finnischen Studie zu Albträumen kämen ihr „sehr, sehr hoch“ vor. „Aber tendenziell würde man das erwarten und das würde sich auch mit unseren Beobachtungen decken.“
Dass ein Drittel der befragten Finnen angab, sie hätten besser geschlafen, überrascht die Leiterin des Instituts für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien hingegen nicht. „Das deckt sich mit meinen Beobachtungen“, sagte Holzinger. Ihre These: Viele Leute litten im Alltag derart unter Schlafmangel, dass sie erst im Lockdown trotz aller neuen Belastungen zur Ruhe gekommen seien. Dafür spricht aus ihrer Sicht auch, dass viele Menschen berichten, sich mehr an ihre Träume zu erinnern.
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Funktion von Träumen: Erlebnisse und Gefühle verarbeiten
Die Corona-Träume sind jedenfalls nichts Außergewöhnliches, sondern passen zu den Erklärungen in der Traumforschung. Auf der einen Seite verarbeitet man durch Träumen Erfahrungen des Tages. Eine andere Erklärung stammt aus der Evolutionspsychologie. „Wenn wir von Bedrohungen träumen, können wir diese dadurch am nächsten Tag besser bewältigen und haben einen Vorteil dadurch“, sagt Holzinger. „Wir lernen quasi ununterbrochen im Traum, das muss nicht immer nur Bedrohliches sein. Wir träumen auch mehr, wenn wir im Urlaub sind, oder erinnern uns zumindest besser daran.“
Traumforscher Schredl hat auch eine Erklärung. „Der Traum neigt dazu, manchmal vor allem Ängste in einer etwas übersteigerten, dramatisierten Form darzustellen und deshalb sind die Träume häufig emotional intensiver als die Ängste, die man im Wachzustand erlebt.“ Wer im Traum von einem Monster flüchte, träume eigentlich von der Angst. Diese lasse sich auch auf Stress im Büro zurückführen. „Das ist bei Covid nicht anders“, versichert Schredl. Die Besonderheit der aktuellen Corona-Pandemie sei, dass sehr viele Menschen von den gleichen Stressfaktoren betroffen sind.