14. Februar 2021, 8:08 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Rafal ist eine von vielen jungen Athlet*innen, denen die aktuelle Corona-Situation zusetzt, weil sie nicht wie üblich trainieren können. Bei FITBOOK erzählt die (Kick-)Boxerin, wie sich der Lockdown auf ihre mentale Gesundheit auswirkt und wie sie das Home-Workout für sich und ihre Freundinnen entdeckt hat.
Der zweite Lockdown zieht sich immer länger. Das ist psychisch belastend, weil er viele von uns zwingt, auf Aktivitäten zu verzichten, die unserem Leben bisher Halt gaben und unseren Alltag prägten. Umfragen aus dem vergangenen Jahr zeigen: Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene leiden unter Ängsten und einer depressiven Stimmung. FITBOOK hat junge Athleten und Athletinnen im Alter von 18 bis 30 Jahren deshalb gefragt: Wie fühlt ihr euch gerade? Wie wirkt sich der plötzliche Sportverzicht auf eure mentale Gesundheit aus? Im vierten Teil unserer Serie erzählt Rafal (30), welche Schwierigkeiten der Lockdown fürs Boxen bedeutet, wie sie plötzlich selbst zum Coach wurde und wie befreiend ein Home-Workout sein kann.
„Ich bin keine Profi-Boxerin. Meine Boxgeschichte begann 2017, weil ich nach meinen Studium wieder nach einer körperlichen Betätigung gesucht habe: Wie es so ist, nimmt einen die Lernerei irgendwann doch mehr ein als gewünscht. Nach der jahrelangen, auslaugenden Stresssituation hat mir mein Körper deutliche Warnsignale gegeben. Ich hatte Gliederschmerzen und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich war sowohl körperlich als auch psychisch nicht mehr in der Lage, viel zu lernen, zu arbeiten oder überhaupt irgendetwas mit Elan zu unternehmen. Anstelle eines Treffens im Park mit meinen Freund*innen, zog ich es vor, zu Hause zu bleiben.
Mir war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Meinem Selbstbewusstsein wegen – und all der Filme und Youtube-Videos, die mir einredeten, der Kampfsport würde mich tough, stark und zu einem neuen Menschen machen –, habe ich mit dem Boxen, später dann auch mit dem Kickboxen angefangen.
Ich würde jetzt gerne sagen: Das Box- und Kickboxtraining hat alles verändert. Ich bin wirklich tough, stark und zu einem neuen Menschen geworden. Dem war aber nicht so. Das Training schüchterte mich am Anfang ein, aber ein Zurück kam für mich nicht infrage. Denn der Sport verhalf mir zu körperlicher Stärke und schenkte mir wieder Konzentration. Ich hatte das Gefühl, neue Zeit gewonnen zu haben, war wieder unterwegs, traf Freund*innen oder nahm an Veranstaltungen teil. Mein Geist kam mit der Veränderung meines Körpers allerdings nicht so schnell mit. Es bedarf schließlich auch Zeit, seine Denkprozesse und Gewohnheiten zu ändern.
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Kein Boxen mehr im Lockdown: „Das Home-Workout schenkte mir paradoxerweise ein befreiendes Gefühl“
Schon vor der Pandemie habe ich mein Training deshalb von dreimal auf zweimal die Woche reduziert, um an meiner Psyche und an meinem Mindset zu arbeiten. Dann kam der erste Lockdown und mein Verein musste auf virtuelle Trainings über Zoom umsteigen. Die nahm ich nicht wahr. Da ich das Training sowieso reduzierte, sprach mich das nun erst recht nicht an. Auch dass plötzlich so viele Leute in meine Wohnung „blicken“ würden, war mir unangenehm.
Ich habe stattdessen beschlossen, ein inaktives Mitglied meines Vereins zu werden. Ich zog sogar einen Austritt in Erwägung, habe mich aber dagegen entschieden. Denn vermutlich gab es sehr viele solche Austritte – der Verein steht gerade wahrscheinlich unter enormen Druck, seine Trainerinnen und Mitglieder zu halten.
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„Die Grenzen zwischen Job und Freizeit sind total ineinander verschwommen“
Statt die Online-Kurse des Vereins zu nutzen, habe ich im ersten Lockdown alleine zu Hause trainiert und mein Home-Workout einfach so gestaltet, wie ich es aus dem Boxen kannte: Seilspringen, Konditions- und Muskeltraining, Schattenboxen, etwas Techniktraining und anschließendes Dehnen … so gut wie es der Platz hergab. Es war großartig. Anderthalbstunden durchschwitzen. Das schenkte mir paradoxerweise in der Quarantäne ein befreiendes Gefühl.
Lange hat sich meine Motivation für diese Art des Home-Workouts im ersten Lockdown aber nicht gehalten. Ich denke, das Problem war, dass ich jetzt auch von zu Hause aus arbeite. Alles in meinem Leben hat sich plötzlich in meinen privaten Raum verlagert. Die Grenzen zwischen Job und Freizeit sind total ineinander verschwommen. Meine eigenen vier Wände wurden erdrückend: Wenn ich mich nur ein Stück vom Schreibtisch wegdrehte, sah ich direkt alles, was mir eigentlich Ruhe geben sollte. Ich ging dazu über, lange Spaziergänge im Grünen zu machen. Hauptsache an der Luft und draußen sein.
Das hilft mir mental sehr: Ich finde langsam zu alten Wegen zurück und versuche mich gleichzeitig an neuen. Der Lockdown wirkt für mich wie eine Lupe: Er legt sich über meine Leben und verdeutlicht mir alles nur noch mehr. Durch die Pandemie habe ich so viel Zeit gewonnen, dass ich keine Ausreden mehr finde, meine Probleme nicht anzugehen.
Aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung im Verein bat mich im vergangenen Herbst eine Freundin, sie zu coachen. Selbstverständlich erklärte ich mich dazu bereit. Die Home-Workouts fingen vor einigen Monaten also von Neuem an, nur dass ich jetzt die Lehrerin bin. Im Laufe der Zeit meldeten sich auch andere Freundinnen bei mir. Entweder, weil ihnen das Alleinsein zu schaffen machte, weil sie den fehlenden Sport ausgleichen wollten, die Verspannungen vom stundenlangen Sitzen vor dem Laptop lockern oder einfach ein paar Lockdown-Kilos loswerden wollten. Mittlerweile treffen wir uns dreimal die Woche online für etwa eine Stunde. Die Bedürfnisse der anderen sind mir dabei sehr wichtig. Die Resonanz ist großartig. Wenn ich die Mädels sehe, habe ich das Gefühl, sie sind glücklicher, motivierter – und dass es ihnen auch körperlich besser geht.
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„Auf Dauer ist so ein Home-Workout kein Ersatz für mich“
Der Kampfsport fehlt mir aber schon. In unser Training baue ich deshalb ab und an mal Boxübungen ein. Bislang nur Grundlagen und ein wenig Schattenboxen. Nichtsdestotrotz: Auch dieses bisschen Boxen tut mir ziemlich gut. Für richtiges Techniktraining, vor allem für Kicks, fehlt mir zu Hause aber einfach der Platz. Ich kann jetzt im zweiten Lockdown zwar ein bisschen boxen, nicht aber das Kickboxen in mein Home-Workouts integrieren, ohne befürchten zu müssen, den Monitor zu treffen. Und ich vermisse es, meine Trainerin quer durch die Halle rufen zu hören: „Die Deckung! Achtet auf eure Deckung!“. Auf Dauer ist so ein Home-Workout kein Ersatz für mich. Noch sind wir alle – mal mehr, mal weniger – diszipliniert dabei. Aber ich merke wie mein anfängliches Gefühl, dass es in meinen eigenen vier Wänden auf Dauer erdrückend ist, wieder hochkommt.
Trotzdem will ich mich nicht beschweren. Unterm Strich geht es mir gut. Ich bin gesund, habe durch das Training Abwechslung und bin in Kontakt mit Menschen. Gesundheit, Abwechslung und Kontakt scheinen mir in der jetzigen Zeit fast schon seltene Güter zu sein.
In der Summe halten sie einen davon ab, gänzlich verrückt zu werden. Es ist ein bisschen Normalität in einer sonst sehr unnormalen Zeit. Diese Normalität ist Zucker für den Verstand. Ich hoffe sehr, dass unsere kleine Sportgruppe noch lange hält. Die Pandemie lässt uns sonst in so unbedenklichen Alltagsdingen hilflos zurück. Jeder sucht Hilfe beim anderen. Das Schöne ist aber, dass gerade jeder bereit ist, auch anderen zu helfen. Wenn wir es also weiterhin schaffen, diese Schwierigkeiten mit kreativen Alternativen zu bewältigen, dann können wir die aktuelle Situation schneller hinter uns bringen.
Vielleicht gibt Ihnen dieser persönliche Einblick von Rafal ein bisschen Mut und Inspiration für Ihren eigenen Kampf im Lockdown oder Motivation, selbst mit Bekannten ein gemeinsames Home-Workout auszuprobieren, wenn auch nicht unbedingt Kickboxen. Stay strong!
Protokolliert von Katharina Kunath