18. Juli 2024, 4:48 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Als bipolare Störung bezeichnet man eine chronische psychische Erkrankung, die durch Stimmungsschwankungen mit starken Hoch- und Tiefphasen charakterisiert ist. Betroffene haben durch die mit der Störung einhergehenden Symptome oft einen enormen Leidensdruck.
Gelegentliche Stimmungsschwankungen – mit oder ohne Auslöser – hat so gut wie jeder schon mal durchlebt. Davon klar abzugrenzen sind die wechselnden manischen und depressiven Phasen, die Betroffene einer bipolaren Störung durchmachen. FITBOOK-Autorin Olivia Dittrich berichtet, was für Symptome auf eine bipolare Störung hindeuten, welche Ursachen dahinterstecken und wie eine Behandlung aussehen kann. Außerdem ordnet die psychologische Psychotherapeutin Inga Fink-Schlattmann ein, wie hoch der Leidensdruck für Betroffene ist.
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Übersicht
Was ist eine bipolare Störung?
Himmelhoch jauchzend kippt zu zum Tode betrübt: Die bipolare Störung ist charakterisiert durch sich abwechselnde manische und depressive Episoden. Diese dauern individuell und je nach Typus der Störung unterschiedlich lange, das heißt von wenigen Tagen bis zu Jahren an. Eine Episode kann entweder ohne bestimmten Auslöser entstehen oder durch eine lebensverändernde Situation, wie der Tod eines geliebten Menschen verursacht werden. Die Störung entwickelt daraufhin häufig eine Eigendynamik, deren Schwankungen und Verlauf von außen nicht mehr nachvollziehbar ist.
Manie und Depression bzw. Hoch- und Tiefphasen bezeichnet lediglich Tendenzen der Schwankungen. Häufig erleben Betroffene Mischformen der beiden Gefühlsextrema. Die psychische Erkrankung hat einen sehr starken Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln von Betroffenen. Nicht selten erschwert die bipolare Störung dadurch die Bewältigung des Alltags enorm.1
Typen einer bipolaren Störung
Man unterscheidet zwei Haupttypen der Störung: bipolare Störung I und bipolare Störung II. Daneben gibt es noch die Formen Zyklothymie und Rapic Cycling. Die Erkrankungsformen werden auf Basis ihrer unterschiedlichen Ausprägungen, das heißt der Dauer und Art der manischen und depressiven Episoden, klassifiziert.2,3
- Bipolare Störung I ist durch das Auftreten mindestens einer manischen Episode definiert, bei der es davor oder danach zu einer hypomanischen Episode (eine abgeschwächte Form der Manie) oder depressiven Episode kommt.
- Menschen mit einer bipolaren Störung II leiden mindestens zwei Wochen unter andauernden depressiven Episoden, gefolgt von mindestens einer hypomanischen Episode, die circa vier Tage andauert.
- Zyklothymie ist durch Episoden von Hypomanie und Depressionen gekennzeichnet, wobei diese kürzer und weniger schwerwiegend sind als bei einer Manie und ausgeprägten depressiven Phase.
- Von Rapid Cycling spricht man, wenn mindestens vier Schwankungen von Manie oder Hypomanie zu Depression im Rahmen eines Jahres stattfinden. Die hohe Frequenz der Umschwünge sorgt für einen enormen Leidensdruck bei Betroffenen und sind auch in Episoden-freien Zeiten von emotionaler Instabilität geprägt.
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Was sind die Symptome einer bipolaren Störung?
Ausprägung und Frequenz der Schwankungen und Episoden hängt also zum einen von der Form der Störung ab, kann aber auch individuell variieren. Die ersten Anzeichen einer bipolaren Störung treten häufig zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr auf.
Manie und Hypomanie (manische Episode)
Das emotionale Hoch während einer manischen oder hypomanischen Phase äußert sich in Gefühlen von Euphorie, Aufgeregtheit, Impulsivität und extremer Energie. Betroffene sind während der Hochphasen oft sehr nervös und empfinden ihre Gedankengänge als schnell oder rasend. Während einer Manie kann es bei manchen Menschen auch zu Symptomen einer Psychose wie zu Halluzinationen kommen, was bei der weniger stark ausgeprägten Hypomanie nicht der Fall ist. Anzeichen können außerdem sein:
- körperliche Rastlosigkeit bzw. Überaktivität
- krankhafter Drang zu Sprechen
- vermindertes Schlafbedürfnis bzw. starke Reduzierung der Schlafdauer
- extrem verstärktes Selbstwertgefühl
- verstärkte Ablenkbar- und Sprunghaftigkeit
- Enthemmung
- Verstärkter Sexualtrieb und Aktivität4
Manische Episoden äußern sich häufig in impulsiven Verhalten. Besonders in Kombination mit dem bis zu Größenwahn gesteigertem Selbstwertgefühl führt dies oft zu rücksichtslosen oder risikoreichen Verhaltensweisen wie ungeschütztem Sex, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder maßlosem Kaufen. Während einer Phase von Hypomanie kommt es zu ähnlichen Symptomen und Verhaltensweisen, allerdings in abgeschwächter Form.
Depression (depressive Episode)
Depressive Episoden ähneln der reinen Depression sehr stark. Bei einer bipolaren depressiven Phase treten meistens mindestens fünf der folgenden Symptome auf:
- anhaltendes, starkes Stimmungstief, geprägt von Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit, ein Gefühl innerer Leere
- Energielosigkeit
- Verlust an Interessen und Freude an Dingen, die vorher Freude bereitet haben
- Zu wenig oder zu viel Schlafbedürfnis
- sehr niedriges Selbstwertgefühl und ein Gefühl von Schuld
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Gedanken über den eigenen Tod oder Selbstmord
- Appetitlosigkeit oder übermäßiges, emotionales Essen
Nicht jeder Betroffene einer bipolaren Störung erlebt zwangsläufig starke, ausgeprägte depressive Phasen mit gleich stark ausgeprägten Symptomen: Der Verlauf der depressiven Episode ist ebenfalls stark individuell. Erwähnenswert ist, dass Episoden der Manie nicht zwangsläufig als angenehm empfunden werden. Wenn nach einer manischen Phase wieder eine „normale“ Stimmung einkehrt, empfinden manche Menschen die Ruhe nach dem Sturm als Verschlechterung der Gefühlslage, was sich wie eine Depression anfühlen kann.5,6
„Menschen, die an einer bipolaren Störung erkrankt sind, sind häufig einem großen Leidensdruck ausgesetzt!“
„Die negativen sozialen Folgen der Störung sind für die Betroffenen oft sehr schwerwiegend. Einerseits ist die depressive Phase von Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und geringem Selbstwertgefühl geprägt, was zur Folge hat, dass die Menschen sich in dieser Phase sozial zurückziehen. Andererseits geht die manische Phase mit überschwänglicher oder gereizter Stimmung einher.
Dabei sind die Betroffenen häufig nicht mehr in der Lage die Realität richtig wahrzunehmen, was mit einem Realitätsverlust und Wahnerleben (Größenwahn) einhergehen kann; es wird völlig irrational gehandelt. Auch der gesteigerte Rededrang kann für das soziale Umfeld sehr anstrengend sein, sodass es in dieser Phase häufig zu einer Distanzierung von den Betroffenen kommt.
Aus diesen Gründen hat die Erkrankung meist einen wesentlichen Einfluss auf den Lebensweg der Erkrankten. Die frühzeitige Erkennung und rechtzeitige Behandlung kann die Betroffenen stabilisieren.“
Inga Fink-Schlattmann, Psychologische Psychotherapeutin
Welche möglichen Ursachen stecken hinter der Erkrankung?
Welche Faktoren die Störung genau verursachen, ist wissenschaftlich bislang nicht eindeutig geklärt. Folgende Faktoren werden mit der Entwicklung der Erkrankung in Verbindung gebracht:
- Organische Faktoren: Es besteht ein Zusammenhang zwischen einer organischen Verletzung wie einer Tumorerkrankung oder übermäßigem Drogenkonsum und den Symptomen der Störung, welche dann auch mit Ende oder Abklingen des organischen Faktors verschwinden.
- Biologische Faktoren: Sie sind ebenfalls wissenschaftlich noch nicht klar identifiziert. Allerdings weisen Untersuchungen darauf hin, dass der Hirnstoffwechsel bei einer bipolaren Störung gestört ist.
- Genetische Prädisposition: Die bipolare Störung selbst kann zwar nicht vererbt werden, allerdings wird eine Anfälligkeit für die Krankheit weitergegeben. Wenn ein Eltern- oder Geschwisterteil an einer bipolaren Störung leidet, hat man selbst laut einer Studie aus dem Jahr 2016 ein 10-mal höheres Risiko zu erkranken.7
- Psychische und soziale Faktoren: Belastende sowie traumatische Ereignisse oder Lebensumstände in der Kindheit und frühen Jugend und auch extreme psychosoziale Belastungssituationen wie das Ende einer Partnerschaft werden ebenfalls als mögliche Ursachen für die Störung vermutet. Vor allem in Kombination mit weiteren Faktoren wie z. B. einer genetischen Prädisposition erhöht sich die Vulnerabilität, durch belastende Ereignisse eine bipolare Störung zu entwickeln, enorm.
Auch wenn es deutliche wissenschaftliche Hinweise auf die auslösenden Faktoren einer bipolaren Störung gibt, schwebt über vielen zu erklärenden Zusammenhängen noch ein großes Fragezeichen. Insbesondere die neurobiologischen Hintergründe, also wie genau der Hirnstoffwechsel bei einer bipolaren Störung beeinflusst wird, ist größtenteils bisher nicht eindeutig geklärt.
Wie wird diagnostiziert?
Um eine bipolare Störung diagnostizieren zu können, sollte ein potenziell Betroffener zunächst einen Hausarzt aufsuchen, damit andere Krankheiten mit Symptomen, die denen einer Manie oder Depression ähneln, wie eine Schilddrüsenüberfunktion, ausgeschlossen werden können. Liegen keine anderen Erkrankungen vor, empfiehlt der behandelnde Arzt gegebenenfalls eine psychische Behandlung.
Von einem ausgebildeten Psychiater, Psychologen oder Psychotherapeuten kann dann eine offizielle Diagnose gestellt werden. Diese wird in der Regel nach den Kriterien aus dem Diagnosekatalog ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ermittelt. Dabei muss ein Patient unter anderem mindestens eine Episode einer Manie oder Hypomanie erlebt haben. Welcher Typ von bipolarer Störung vorliegt, wird ebenfalls nach Kriterien des DSM-5 ermittelt. Im Zuge dessen werden die Muster der Symptome und die Schwere der Beeinträchtigung einer Person während ihrer schwersten Episode beurteilt.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Glücklicherweise gibt es einige Therapieansätze, die sich im Zuge der Behandlung von bipolaren Störungen als sehr wirksam erwiesen haben und Betroffenen sehr viel Leidensdruck nehmen können. Darunter fallen:
- Psychotherapie, z.B. kognitive Verhaltenstherapie oder Familientherapie. Bei einer Akuttherapie wird einem Patienten in Zeiten von manischen oder depressiven Episoden akut geholfen, um den enormen Leidensdruck in diesen Phasen zu reduzieren. Während einer Langzeittherapie wird eine dauerhafte Stabilisation und das Erlernen von Verhaltensweisen zur Rückfallvorbeugung erlernt.
- Das Erleben von Selbst- und Stressmanagement in Form von Meditation und Sport sowie Aufklärung und Erkennen von frühen Anzeichen einer Episode können Betroffenen ebenfalls helfen.
- Eine medikamentöse Behandlung hat sich – als unterstützende Maßnahme neben einer Langzeittherapie und ausreichender Aufklärungsarbeit – ebenfalls als wirksam erwiesen zur Behandlung der Stimmungsschwankungen. Je nach Typ und Schwere der Störung können Stimmungsstabilisatoren, Antipsychotika oder Antidepressiva verschrieben werden.
Trotz der vielfältigen und wirksamen Therapiemöglichkeiten ist die bipolare Störung eine Erkrankung, die Betroffene meistens lebenslang begleitet und behandelt werden muss. Je früher man mit einer Therapie beginnt, desto vielversprechender sind die Erfolgschancen und desto früher erspart man sich und seinen Angehörigen leidvolle Gemütszustände und davon bestimmte Verhaltensweisen und Erfahrungen.8,9
Rapper Kanye West leidet an der Störung
Emotionale Ausbrüche, wirre Tweets, öffentliche Aussagen und Auftritte – über die Jahre sorgte Rapper Kanye West mit seinem auffälligen Verhalten immer wieder für Beunruhigung. Im Jahr 2020 nahm ihn seine damalige Ehefrau Kim Kardashian in Schutz und bat um Mitgefühl für ihren Mann. Sie verriet: Kayne West leide an einer bipolaren Störung. Der Musiker selbst sprach in seiner Netflix-Dokumentation „Jeen-yuhs: A Kanye Trilogy“ über seine Erkrankung.
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Wo bekommen Betroffene Rat und Hilfe?
Wenn Sie unter Symptomen einer bipolaren Störung oder Depression leiden, informieren Sie sich über mögliche Hilfsangebote auf der Website der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen e. V. oder der Deutschen Depressionshilfe. Dort finden Sie Informationen über verschiedene Anlaufstellen und Beratungsangebote, die in Zeiten der Not oder bei anhaltendem Leidensdruck eine große Hilfe sein können und Perspektiven schaffen.