7. August 2020, 17:11 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Wie hat sich der harte Lockdown auf die Familien und insbesondere auf die Eltern-Kind-Beziehung ausgewirkt? Die Annahme eines Wissenschaftlers in den USA war, dass das Monate lange gemeinsame Ausharren auf engstem Raum für Stress und heftigen Streit gesorgt hat. Also befragte er 500 Familien dazu und kam zu einem unerwarteten Ergebnis.
Als Kulturanthropologe und Familienforscher erwartete der US-Wissenschaftler Dr. Grant McCracken nach dem langen Corona-Lockdown vor allem, dass sich in den Familien die Beziehungen eher angespannt hätten. „Tatsächlich war ich nervös, dass ich mich mit Familien in der Krise befassen würde“, offenbarte er im Gespräch mit dem amerikanischen Gesundheits-Portal „healthline“.
Um herauszufinden, wie es um die psychische Stabilität von Eltern-Kind-Verbindungen in den USA wirklich steht, befragte er nach dem Lockdown 500 Familien, wobei er mit 50 von ihnen weitere intensiviere Interviews durchführte. Das Ergebnis überraschte ihn schließlich selbst, wie er weiter betonte: Die Hälfte der Familien gab nämlich an, durch die Corona-Krise noch stärker zusammengerückt zu sein, wobei gerade mal fünf Prozent erklärten, dass ihre Bindung eher gelitten habe. Harmonie statt Erschöpfung und Burnout – aber warum?
Corona-Lockdown: Mütter-Töchter-Beziehungen verbesserten sich am meisten
McCracken beobachte dabei, dass Mütter-Töchter-Beziehungen am meisten vom Lockdown profitierten: „Mütter verlieren manchmal den Kontakt zu ihren Töchtern, da sie von sehr vielen Aufgaben und Verpflichtungen eingenommen sind.“ Töchter dagegen nabeln sich im Teenager-Alter von ihren Müttern ab, konzentrieren sich eher auf ihre Peer-Group. Die gemeinsame Mutter-Tochter-Zeit leidet. „Der Lockdown hat Töchter wieder nach Hause gebracht. Es machte Mütter sichtbar. Es gab Zeit und Aufmerksamkeit, Mütter und ihre Töchter konnten wieder wirklich miteinander reden“, erklärt der Forscher das Phänomen. Eine Möglichkeit, von der viele Familien bewusst oder unbewusst Gebrauch gemacht haben.
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Die heilende Macht der guten Gespräche
Die Familientherapeutin Alisha Sweyd hat dafür eine weitere Erklärung parat. „Wenn es um Elternbeziehungen im Allgemeinen geht, ist die Qualität der Gespräche äußerst wichtig“, betonte sie bei „healthline“. Und weiter: „Doch für Mütter und Töchter haben sie noch eine tiefere Bedeutung.“ Der Grund dafür soll übrigens im „weiblichen Gehirn“ liegen. Während kleine Jungen ihre Plaudereien gerne mit Aktivitäten wie Fangen spielen oder Spazieren verbinden, bräuchten Mädchen dagegen Gespräche, die in ruhiger Umgebung stattfinden. „Ein Mädchen-Gehirn ist empfänglicher für Augenkontakt und Körpersprache“. Die stärkere Bindung kam für sie vor allem dadurch zustande, dass Mutter und Tochter ohne die üblichen Ablenkungen des Alltags Zeit miteinander verbringen konnten.
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Die Mutter als „Familien-Architektin“
Ob sich die stärkere Bande auch langfristig halten werde, hänge von jeder Familie und ihrer weiteren Umgangs-Kultur selbst ab. Nach seinen eingehenden Befragungen ist McCracken allerdings davon überzeugt, dass es sich um kein vorübergehendes Phänomen handelt. Dafür sei die Corona-Krise viel zu einschneidend – gesellschaftlich wie global gesehen. „Wir alle Leben jetzt seit vielen Monaten in diesem neuen Zustand, er ist ziemlich stark und noch immer aktuell.“ Als Kulturanthropologe sieht er in seinen Beobachtungen zudem eine gesellschaftsverändernde Kraft: „Ich denke, wenn sich die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern ändert, ändert sich die amerikanische Familie. Und wenn sich die Familie ändert, ändert sich die amerikanische Kultur.“ Zum Besseren, wie er zusammenfassend hofft. Wer die wahren Heldinnen der Corona-Krise sind, steht für ihn jedenfalls außer Frage: „Die Mütter sind starke Familien-Architektinnen. Wir haben diese Leistung ihnen zu verdanken.“