11. November 2021, 11:07 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
In ASMR-Videos werden (meistens) Frauen gezeigt, die auf mitunter eigensinnige Weise Geräusche produzieren. Diese sollen auf Zuschauer bzw. Zuhörer entspannend wirken und so das Einschlafen erleichtern. FITBOOK stellt den Internet-Hype vor, der längst Gegenstand wissenschaftlicher Studien ist, und verrät, was ein Schlaf-Experte dazu sagt.
ASMR steht für „Autonomous Sensory Meridian Response“. Dabei handelt es sich um eine Art Kribbeln von der Kopfhaut bis zum Rücken. Eine deutsche Übersetzung dafür gibt es noch nicht, unter der Abkürzung ASMR ist der Effekt aber auch hierzulande schon vielen ein Begriff. Ausgelöst werden soll die „Autonomous Sensory Meridian Response“ durch bestimmte Berührungen und Geräusche. Die Wissenschaft unterscheidet ASMR von der klassischen Gänsehaut, da das beschriebene Kribbeln länger anhalten und – noch viel wichtiger! – beruhigend wirken soll.
Knistern, Flüstern und Gluckern zum Entspannen
Auf Videoportalen im Netz finden sich inzwischen unzählige ASMR-Videos. Auch wenn sie nichts (explizit) Sexuelles haben und auch nicht erregen sollen, gleichen manche Videos einer Peepshow. Die Frauen auf dem Bild machen mit ihren Händen oder ihrem Mund Dinge, um auf der anderen Seite ein ganz bestimmtes Gefühl zu erzeugen, was in einigen Fällen fetischartig anmuten kann.
Als vermeintlicher Garant für jenes Gefühl gelten etwa das Geräusch einer Haarbürste, wenn man damit über die Kopfhaut und durch die Haare gleitet oder die Borsten mit den Händen reibt. Ebenfalls beliebt: leises Flüstern und Knistern, etwa beim Eingießen eines Getränks in ein Glas mit Eiswürfeln. Bisweilen verstörend wirken Szenen von vorrangig weiblichen Protagonisten, die mit knallig manikürten Händen trockenen Schleim kneten oder mit ihren langen Nägeln auf Oberflächen mit Textur kratzen. „Texturiertes Tapping und Scratching“, nennen das Kenner.
Essgeräusche kommen richtig gut an
Dass es Personen gibt, die mit Essgeräuschen große Probleme haben – sogenannte Misophoniker –, ist kein Geheimnis. Aber es gibt es auch Menschen, die Fans von bestimmten Essgeräuschen sind und anderen gern zuhören, wenn sie Knuspern, Knack-Sounds von sich geben oder dergleichen. Im Netz finden sich Aufnahmen rot geschminkter Lippen beim Verzehr geräuschintensiver Lebensmittel in Hülle und Fülle.
Es gibt bereits ASMR-Stars
So manche Frau ist mit ASMR-Videos sogar schon berühmt geworden – wie beispielsweise Maria Viktorovna. Der YouTube-Account der russisch-amerikanischen ASMR-Influencerin, „Gentle Whispering ASMR“, hat rund 2,12 Millionen Follower.
Dazu kommen noch super-prominente Frauen, die das Phänomen selbst mal erkunden wollten und das Ergebnis ihren Fans dann zugänglich gemacht haben. Im Auftrag des US-amerikanischen „W Magazine“ haben 2018 unter anderem Model Gigi Hadid, die Schauspielerinnen Jennifer Garner und Salma Hayek, Musikerin Cardi B und It-Girl Paris Hilton vor tiefschwarzer Kulisse klackende und klappernde Geräusche mit Plastikschmuck produziert, extrem leise flüsternd aus ihrem Leben erzählt, über gepolsterte Mikrofone gekratzt oder klangvoll Tortilla-Chips gegessen.
ASMR auch Gegenstand der Forschung
Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigte, dass ASMR tatsächlich die Herzfrequenz senkt.1 Gleichzeitig werde dadurch die Hautleitfähigkeit erhöht – ein wichtiger Marker in der Psychologie, der sich in verschiedenen Gemütszuständen – beispielsweise bei Stress im Gegensatz zu Entspannung – verändert.
Die bisherige Forschung auf dem Gebiet zeigt aber auch: Nicht jeder ist für ASMR zugänglich. Entsprechend gibt es sogar Selbsttests in Form von Internet-Videos, bei denen eine etwaige Reaktionsfreudigkeit auf die ASMR-typischen Geräusche überprüft werden kann.
Was sagt der Experte zu ASMR?
FITBOOK sprach mit Dr. Hans-Günter Weeß, Diplom-Psychologe, Buchautor (u. a. „Schlaf wirkt Wunder: Alles über das wichtigste Drittel unseres Lebens“) und Leiter des Schlafzentrums am Pfalzklinikum in Klingenmünster. Er kennt das Konzept der ASMR-Videos – und gänzlich abtun kann er ihren Wirkmechanismus nicht.
Wie der Fachmann uns erklärt, gibt es zahlreiche Methoden, um sich von den größeren und kleineren Ereignissen des Tages abzulenken. „Alles, was wir brauchen, um in den Schlaf zu finden, ist die nötige Ruhe und Entspannung.“ Wie man diese erreiche, ist letztlich egal. „Da kann die ASMR-Technik genauso eine Möglichkeit darstellen wie autogenes Training oder Stadt-Land-Fluss spielen.“ ASMR-Videos scheinen daher die jüngere Generation anzusprechen, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist.
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Was in jedem Fall interessant ist: dass die vom Handy, Tablet oder Laptop abgespielten Aufnahmen – trotz des gefürchteten Blaulichtanteils der Bildschirme (siehe Erklärkasten) – bei vielen Nutzern offenbar die gewünschte entspannende Wirkung erzielen. „Schon alleine das zeigt, dass die oft als schädlich propagierten Blaulichtquellen den Schlaf nicht immer so nachhaltig stören, wie das vermeintlich angenommen wird“, findet der Experte.
Bildschirmleuchten vs. Schlafqualität
„Viele Schlafforscher warnen vor den blauen Wellenlängen des Lichts, die vom Smartphone-, Tablet- und Laptop-Bildschirm ausgehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sie die Ausschüttung von Melatonin hemmen, dem sogenannten „Schlafhormon“, das im menschlichen Körper die Wachphasen reguliert und einen bei Dunkelheit müde werden lässt. Heißt: Wer in den Bildschirm sieht, soll langsamer müde werden.“–
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Fazit: ASMR kann funktionieren – beim einen klappt‘s, beim anderen nicht
Generell gilt: Jeder tickt anders und kommt anders runter. Entsprechend ist es vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass ausgerechnet Essgeräusche, die manche Menschen richtiggehend auf die Palme bringen können, beim anderen beruhigend wirken. Dr. Weeß jedenfalls glaubt daher, „dass nicht jedes ASMR-Video gleich wirkt. Es kommt sicherlich auf den Inhalt und darauf an, wie sympathisch er dem Zuschauer ist.“
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Quellen
- 1. Poerio GL, Blakey E, Hostler TJ, Veltri T. More than a feeling: Autonomous sensory meridian response (ASMR) is characterized by reliable changes in affect and physiology. PLoS One. 2018 Jun 20;13(6):e0196645. doi: 10.1371/journal.pone.0196645. PMID: 29924796; PMCID: PMC6010208.