24. März 2021, 14:11 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Eltern, denen regelmäßig die Sicherung durchbrennt, richten offenbar mehr als nur emotionale Schäden an. So kommt eine neue Studie zu dem Ergebnis, dass häufiges Anschreien von Kindern deren Gehirnentwicklung massiv beeinträchtigt.
Gerade während der aktuellen Pandemie-Zeiten fällt es nicht leicht, stets gelassen zu bleiben. Wenn Mütter und Väter angesichts des dünner werdenden Nervenkostüms hier und da die Stimme erheben, ist das nicht ideal. Aber es ist meist kein Weltuntergang. Anders verhält es sich, wenn häufiges und vor allem wuterfülltes Anschreien zur Tagesordnung gehört. Wachsen Kinder in einer solch lieblosen Umgebung auf, kann das laut Forschenden der Universität Montreal (Kanada) langfristig ihre Gehirnentwicklung stören. Genauer: Bestimmte Areale, die unter anderem Angstzustände regulieren, entwickeln sich nur unzureichend.1
Wie „harte Erziehungspraktiken“ das Kindergehirn beeinträchtigen
Es ist bekannt, dass schwere Kindesmisshandlung, wie sexueller, physischer und emotionaler Missbrauch sowie Vernachlässigung oft zu Depressionen und Angststörungen im Erwachsenenalter führen. So haben frühere Studien bereits gezeigt, dass Betroffene einen kleineren präfrontalen Cortex und eine weniger gut entwickelte Amygdala aufweisen. Beides sind Hirnregionen, die eine bedeutende Schlüsselrolle spielen, wenn es darum geht, emotionale Probleme wie Ängste oder depressive Zustände auf gesunde Art zu regulieren. Jetzt beobachteten die Forscher bei Jugendlichen, welche in ihrer Kindheit heftiger verbaler Gewalt, also vorrangig Anschreien, ausgesetzt waren, einen ähnlichen negativen Effekt auf die Gehirnentwicklung. Und das, obwohl sie keine schwerwiegenderen körperlichen Misshandlungen erlebten.
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Daten von Jugendlichen, die seit ihrer Geburt beobachtet werden
Die Erkenntnisse der kanadischen Studie basieren auf Daten und Gehirn-Scans von Kindern und Jugendlichen, die heute zwischen 12 und 16 Jahre alt sind. Diese werden im Rahmen der „Forschungseinheit der Universität Montreal für psychosoziale Fehlanpassungen“ seit ihrer Geburt überwacht und begleitet. Dazu gehört eine jährliche Bewertung ihres Angstniveaus im Zusammenhang mit den zu Hause angewandten Erziehungsmethoden. Laut Bericht ist diese Studie die erste, die versucht, die Zusammenhänge zwischen harten Erziehungspraktiken, Angstzuständen von Kindern und der Anatomie ihres Gehirns herzustellen.
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Anschreien für die kindliche Gehirnentwicklung ähnlich schlimm wie Schlagen
Für Studienleiterin Prof. Sabrina Suffren sind die daraus gezogenen Schlussfolgerungen mehr als alarmierend, wie sie in einer Pressemitteilung der Universität betont. „Wir konnten erstmals aufzeigen, dass harte Erziehungspraktiken, die nicht mit körperlicher Gewalt einhergehen, mit einer ähnlichen Verringerung der Gehirnstruktur verbunden ist, wie wir sie sonst von Opfern schwerwiegender Missbrauchshandlungen kennen.“, erklärt sie. Bereits 2019 sei eine vergleichbare Studie zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. „Jetzt wissen wir, dass heftiges Anschreien die Gehirnentwicklung von Kindern ebenfalls stört.“2
Häufiges Anschreien oft noch gängige Erziehungs-Praxis
Was die Studie für Suffren so wichtig macht? Die Tatsache, dass das Anschreien von Kindern gesellschaftlich als weitestgehend akzeptiert gilt. Ganz im Gegensatz zu körperlicher Gewalt. „Die Auswirkungen gehen über Veränderungen im Gehirn hinaus. Es ist wichtig, dass Eltern und die Gesellschaft verstehen, dass der häufige Einsatz strenger Erziehungspraktiken die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen kann.“
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Quelle
- 1. Suffren, S., La Buissonnière-Ariza, V., Tucholka, A., Nassim, M., Séguin, J., Boivin, M., . . . Maheu, F. (2021). Prefrontal cortex and amygdala anatomy in youth with persistent levels of harsh parenting practices and subclinical anxiety symptoms over time during childhood. Development and Psychopathology, 1-12. doi:10.1017/S0954579420001716
- 2. Valérie La Buissonnière-Ariza, Jean R. Séguin, Marouane Nassim, Michel Boivin, Daniel S. Pine, Franco Lepore, Richard E. Tremblay, Françoise S. Maheu. Chronic harsh parenting and anxiety associations with fear circuitry function in healthy adolescents: A preliminary study. Biological Psychology, Volume 145, 2019, Pages 198-210, ISSN 0301-0511, https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2019.03.019.