6. April 2020, 16:47 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Deutsche Uni-Forscher loben ihre „weltweit einmalige Innovation“, und auch verschiedene Medien feiern das in jahrelanger Arbeit entwickelte Produkt: nahezu gänzlich nikotinfreier Tabak. FITBOOK erklärt, warum Sie die teils euphorischen Meldungen kritisch sehen sollten.
Nikotin wird bei der Zigarettenherstellung nicht etwa zugesetzt: Das Alkaloid ist von Natur aus in den Blättern der Tabakpflanze enthalten. Es war also ein anspruchsvolles Vorhaben, den Weg für nikotinfreie Zigaretten zu ebnen, und hat Dr. Felix Stehle und Mitarbeiterin Julia Schachtsiek von der Technischen Universität Dortmund drei Jahre intensiver Forschung abverlangt. Dann ist es gelungen: Mit 0,04 Milligramm à 100 Gramm (anstatt, wie sonst, 16 Milligramm) liegt der Nikotingehalt des Zuchttabaks unterhalb der Nachweisgrenze.
So entsteht der nikotinfreie Tabak
Die Wissenschaftler hatten Pflanzensetzlinge der Sorte, die für „Virginia Smoking“-Tabak verwendet wird, in Petrischalen mit einer Bakterienlösung behandelt. „Diese enthielt die Genschere Crispr“, steht es auf der Website der TU Dortmund. Die Genschere trennte diejenigen Gene innerhalb der Pflanze durch, die an der Produktion des Nikotins beteiligt sind. Die Pflanze setzte sich daraufhin wieder zusammen – ein Prozess, bei dem es zu natürlichen Fehlern kommt. Die entsprechenden Gene sind dadurch nicht mehr fähig, Nikotin zu erzeugen.
Trotzdem „gentechnikfrei“
Stehle und Schachtsiek wollen keine nikotinfreie Zigarette auf den Markt bringen, ihre Dienste aber der Industrie zur Verfügung stellen. Innerhalb von 18 Monaten könnten sie die Tabaksorte eines daran interessierten Unternehmens vom Nikotin befreien. Vorher müsste aber eine Plantage gefunden werden. Denn: In Europa ist es nicht erlaubt, Pflanzen unter Einsatz der Genschere anzubauen. „Nach unserem Verständnis ist die Pflanze nach der Behandlung gentechnikfrei“, so Stehle.
Stehle, selbst übrigens seit sieben Jahren Nichtraucher, glaubt an das wirtschaftliche Potential seiner Erfindung. „Mit nikotinfreien Zigaretten können sich die Unternehmen einen zusätzlichen Markt erschließen“, steht es da. Für Aufhörwillige wären sie interessant, und für „Menschen, die ihre Raucherrituale beibehalten, aber gleichzeitig schädliches Nikotin vermeiden wollen“.
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Wie schädlich ist Nikotin wirklich?
Nikotin ist ein Nervengift und trägt zur Abhängigkeit von Zigaretten bei. Des Weiteren verschlechtert Nikotin unter anderem die Durchblutung, kann den Blutdruck ansteigen lassen, beeinträchtigt Geschmacks- und Geruchssinn und regt die Darmbewegung an.
Zu den weniger unerwünschten Begleiterscheinungen gehört, dass Nikotin das Hungergefühl verringert und den Stoffwechsel ankurbelt, weshalb sich durch das Rauchen der Kalorienverbrauch erhöht. Zudem hat Nikotin grundsätzlich den Effekt, die Aufmerksamkeit kurzfristig zu schärfen. Das bestätigt Hirnforscherin Prof. Svenja Caspers vom Jülicher Institut für Neurowissenschaften im Gespräch mit FITBOOK. Aus dem Grund können sich Raucher nach einer Zigarette anscheinend besser konzentrieren.
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Wichtig: Nikotin ist längst nicht der einzige fragwürdige Stoff im Zigarettenrauch. Er enthält außerdem „rund 4800 chemische Substanzen, von denen mehr als 70 Krebs erregend sind oder im Verdacht stehen, es zu sein“. Das ist unter anderem bei „Lungenärzte im Netz“ nachzulesen, und in ähnlicher Formulierung immerhin auf den Zigarettenpackungen.
Nikotinfreier Tabak – Experte warnt vor Krebsgefahr
So sagt uns auch Dr. med. Matthias Riedl, Arzt für Innere Medizin am Medicum Hamburg: „Nikotinfreie oder -arme Zigaretten nützen in puncto Krebsprävention nichts.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Meldungen warnt er davor, dass zur Vermarktung der neuen Produktvielfalt die Schädlichkeit des Rauchens auf das Nikotin geschoben wird.
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Fazit zu nikotinfreiem Tabak
Natürlich ist die gesundheitsgefährdende Wirkung von Zigaretten nicht auf das Nikotin beschränkt. Ganz im Gegenteil: Denn krebserregend sind am Ende das in Zigaretten enthaltene Teer, Benzol, die Schwermetalle usw. Gleichzeitig könnte nikotinfreier Tabak ein bisschen weniger süchtig machen – wobei man dazu sagen muss, dass bei vielen Rauchern eine Verhaltensabhängigkeit hinter dem Laster steckt. Und ja, verschiedene ungünstige Folgen, u.a. für das Herz-Kreislauf-System, wären ohne Nikotin reduziert.
Genauso würde es sich allerdings mit den von vielen Rauchern gewünschten Effekten (erhöhter Kalorienverbrauch, konzentrations- und verdauungsförderlicher Effekt, etc.) verhalten. Heißt mit anderen Worten: Eine Zigarette ohne Nikotin zu rauchen, kann man sich auch gleich sparen. Nikotinfreier Tabak ist nicht die Lösung.