7. Mai 2021, 0:01 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Mit ihrem plötzlichen Verschwinden 2019 hat Sophia Thiel unter Fitness-Fans viel Verwirrung ausgelöst. Zwei Jahre später ist klar, dass Essstörungen der Grund dafür waren. Das perfekte Bild, das von der Influencerin gezeichnet wurde, sollte nicht durch ein vermeintlich unperfektes Äußeres „beschädigt“ werden. Sophia Thiels Reaktion wirft einen fragwürdigen Blick auf die Welt der Fitness-Influencer. FITBOOK hat mir ihr gesprochen.
FITBOOK: Vor zwei Jahren sind Sie plötzlich von der Bildfläche verschwunden – jetzt erfahren wir, dass eine Essstörung der Grund dafür war. Setzen Sie sich mit Ihrem Comeback als Fitness-Influencerin nicht wieder genau dem aus, was Sie krank gemacht hat?
Sophia Thiel: „Social Media war nicht der Auslöser für meine Essstörung. Es war ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Faktoren. Social Media hat mir immer viel Spaß gemacht, nur habe ich nicht gesagt, was mein Problem war, das ich selbst lange Zeit auch nicht wusste oder gar benennen konnte. Das alles mit der Essstörung im Hintergrund zu machen, war der größte Leidensdruck für mich persönlich, und irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Dass ich jetzt niemandem mehr etwas verschweigen muss und selbstbewusst dazu stehen kann, nimmt mir enorm viel Druck und erleichtert mich sehr.“
„Zum ersten Mal funktionierte meine Diät nicht“
Wenn Social Media und dessen Auswirkungen nicht der Auslöser für Ihre Essstörung waren – warum haben Sie sich dann damals völlig zurückgezogen? Was ging damals in Ihnen vor?
„Vor der FIBO (die weltgrößte Fitnessmesse, Anmerk. d. Red.) habe ich wie jedes Jahr ab Januar streng Diät gehalten. Ich dachte, es geht um Willensstärke und Disziplin, und anfangs war das auch gut so. Doch dann häuften sich die Tage, an denen ich die Kontrolle über mein Essverhalten verlor. Zum ersten Mal funktionierte meine Diät nicht und mir wurde immer klarer, dass ich es rechtzeitig zur FIBO nicht mehr auf die Reihe bekomme, so auszusehen, wie ich dachte, dass es von mir erwartet wird. Der Tag vor der FIBO war dann mein persönlicher Tiefpunkt. Ich wusste da nicht mehr, wohin mit mir und wer ich sein will. Deshalb habe ich dann ganz kurzfristig meine Auftritte abgesagt und bin untergetaucht.“
„Ich dachte, bei mir selbst muss ich so hart sein, weil mein Körper ein Arschloch ist“
Woraus genau bestand diese strenge Diät?
„Ich habe alles akkurat abgewogen, berechnet und mich fast ausschließlich nur von meinen vorgekochten Mahlzeiten ernährt. Zusätzlich zum zweistündigen Krafttraining habe ich täglich noch mal zwei Stunden Cardiotraining absolviert, um Gewicht zu verlieren. Diesen Plan habe ich für mich selbst kreiert, und ich stand damals voll dahinter. Ich dachte, es geht um Willensstärke und Disziplin. Und ich wollte jeden Tag auf der Waage ein Ergebnis sehen. Mit meinem jetzigen Wissen möchte ich absolut davor warnen, das nachzumachen.“
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Ihren Fans haben Sie auf Ihrem YouTube-Kanal immer sanfte und nachhaltige Tipps zu Ernährungsumstellung und Training gegeben. Aber selbst haben Sie etwas völlig anderes praktiziert?
„Ich dachte, bei mir selbst muss ich so hart sein, weil mein Körper ein Arschloch ist und nur so funktioniert. Ich habe den Leuten nie konkrete Kalorienzahlen rausgegeben, weil ich wusste, dass ich das niemandem zumuten kann. Ich dachte, sie wollten das Bild von Sophia Thiel, der Fitness-Influencerin, haben. Aber ich selbst war fest überzeugt, dass ich dieses Bild mit sanften und nachhaltigen Tipps eben nicht erreichen könnte. Deshalb habe ich etwas anderes empfohlen, als ich selbst praktiziert habe. Im Übrigen habe ich das, was ich gezeigt habe, auch gemacht. Nur hatte ich mit der Zeit immer schlimmere Essanfälle dazwischen.“
„Ich bin Sophia Thiel, Diät ist mein Job. Die Leute verlangen von mir ein Sixpack“
Sie dachten, man würde Sie nur mit einem völlig definierten, schlanken Körper akzeptieren?
„Ich habe geglaubt, der User will keine ernsthaften, schwierigen Themen, sondern einfach konsumierbare Inhalte. Mit meinem Problem wollte ich niemanden belasten. ‚Da ist etwas, das ich euch gerne sagen würde: Ich habe Essanfälle und bin todunglücklich deswegen!‘ Ich dachte, die Leute würden mich deswegen verlassen und dass ich das als Fitnesstrainerin nicht sagen darf. Ich dachte, ich habe ein Problem, das ich alleine lösen kann. Ja keine Schwäche zeigen.“
Ihnen war nicht klar, dass Sie an einer krankhaften Essstörung leiden?
„Es ist ein ganz schmaler Grat zwischen: ‚Wann trete ich mir in den Hintern und zeige Disziplin?‘ und ‚wann wird es zum Kontrollwahn?‘. Ich konnte nicht mehr auswärts essen gehen, habe Lebensmittel nur noch zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ unterschieden. Seit ich mit meiner Fitness-Influencer-Reise 2013 begonnen habe, wollte ich keinen Geburtstagskuchen mehr, denn er fiel ja immer in die FIBO-Vorbereitung und war für meine Diät kontraproduktiv. Stattdessen habe ich jahrelang Klopapiertorten bekommen, die natürlich auch sehr nützlich waren und hübsch aussahen! Ich dachte, ich muss das machen. Ich bin Sophia Thiel, Diät ist mein Job. Die Leute verlangen von mir ein Sixpack. Andererseits war ich den Tag über häufig müde und schwach, wollte das Training irgendwie so gut es ging absolvieren, und dann kam natürlich auch der Hunger dazu.“
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»Ich dachte, Bodybuilding sei der Schlüssel für mein Problem
Wie hat es bei Ihnen mit der Essstörung angefangen?
„Das begann schon früh, als ich wegen meines Gewichts gemobbt wurde und gemerkt habe, dass die Jungs mich weniger als ‚Girlfriend-Material‘ sahen. Zum ersten Mal Kontakt zu Essstörungen hatte ich durch eine damalige Schulkameradin. Da ich unbedingt abnehmen wollte, habe mich stark an ihrem Verhalten orientiert. Als meine Noten schlechter wurden, habe ich mich gefragt, ob man wirklich so leiden muss, um abzunehmen. Das war der Moment, als ich Bodybuilding entdeckte. Ich dachte, das sei der Schlüssel für mein Problem. Ich kann abnehmen, richtig essen und gleichzeitig stark sein.“
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Für dieses Verhalten haben Sie dann in den sozialen Netzwerken extrem viel Zuspruch erhalten…
„Für mein Verhalten habe ich Bestätigung und Liebe bekommen. Dann kamen die Aufträge, mein eigenes Fitnessprogramm, damit fühlte ich auch mehr Verantwortung. Bis 2016 kam ich damit auch gut klar. Ich dachte, damit ich immer so definiert aussehe, muss ich jetzt rund ums Jahr meine Wettkampf-Diät durchziehen.“
Die Essstörung war „Wie ein Monster, das ausbrach und die Kontrolle übernahm“
Wie ging es dann weiter?
„Ich wusste nicht, wo ich mich reinreite. Ich traute mich schlichtweg nicht, etwas außerhalb meines Diätplans zu essen. Sogar im Urlaub aß ich nur Vorgekochtes. 2017 ging es dann langsam los mit meinen ersten persönlichen Krisen.“
Wie prägte die Essstörung Ihren Alltag?
„Es gab für mich nur Schwarz oder Weiß. Entweder ich habe es geschafft, mich komplett an meinen Trainings- und Ernährungsplan zu halten, oder ich war draußen. Das ‚Draußen‘ war wie ein Monster, das ausbrach und die Kontrolle übernahm. Trigger waren Momente, in denen ich sehr unzufrieden mit mir war, Stress hatte oder es Disharmonie mit Ercan oder der Familie gab.“
Sophia Thiel erhielt die Diagnose „Bulimia nervosa“
Die bei Sophia Thiel diagnostizierte Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) zeigt sich im Zwang, das Körpergewicht zu kontrollieren – nach Essanfällen werden Maßnahmen wie übermäßiger Sport, Abführmittel oder Erbrechen ergriffen. Daneben gibt es zwei weitere Formen der Essstörung: Bei der Binge-Eating-Störung geht es um wiederkehrende, unkontrollierbare Essattacken, die zu starkem Übergewicht führen; und bei der Magersucht (Anorexia nervosa) hungern Betroffene bis hin zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht.
Erbrechen, Abführmittel: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte das nie gemacht“
Wie lief so ein Essanfall bei Ihnen ab?
„Ich spürte dann eine innere Spannung und dachte, es zerreißt mich, wenn ich jetzt nicht an Essen komme. Dann bin ich wie im Wahn losgezogen, und als ich wieder zu Hause war, habe ich gegessen, bis ich nicht mehr konnte. Danach habe ich mich dafür verurteilt und Maßnahmen ergriffen, um das zu kompensieren. Manchmal hatte ich nur einen Fressanfall im Monat. Wenn es schlimm war, so wie bei meiner Flucht nach L. A. (nach ihrer kurzfristigen Absage der FIBO 2019, Anm. d. Red.), hatte ich sie fast jeden Tag.“
Was haben Sie nach einem Vorfall unternommen?
„Am Tag nach einem Essanfall habe ich die Kalorien reduziert und bis 13 Uhr nichts gegessen, was den nächsten Anfall provoziert hat. Außerdem habe ich viel Cardio gemacht.“
Haben Sie sich auch erbrochen und/oder Abführmittel eingenommen?
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte das nie gemacht.“
Eine ganze Weile nach Ihrem Abtauchen haben Sie eine Therapie angefangen. Wie geht es Ihnen heute?
„In der Psychotherapie habe ich die größten Fortschritte gemacht. Dazu musste ich verschiedene Idealvorstellungen im Kopf loslassen: ‚Ich muss abnehmen‘, ‚ich bin zu dick‘. Ich musste lernen, dass Auswärtsessen kein Fehler ist und ich nicht in Panik verfallen muss, wenn ich einen Tag nicht trainiert habe. Es ist und bleibt ein Prozess, und ich habe auch heute noch manchmal Flashbacks und fühle mich an manchen Tagen unwohl in meiner Haut. Aber das ist ja völlig normal. Deshalb kann ich auch nicht sagen, dass ich total geheilt bin und mit nichts mehr Probleme habe. Ich glaube, mit einer Essstörung hat man ein Leben lang irgendwie zu tun, aber mit der Zeit wird es leichter. Diese wahn-mäßigen Essanfälle hatte ich jetzt seit einem Jahr nicht mehr, und darüber bin ich sehr glücklich.“
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Verdacht auf Essstörung – was kann das Umfeld tun?
Von einer Essstörung Betroffene fällt es oft schwer, sich einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen. Für die Genesung ist diese aber unbedingt erforderlich. Was sollte man tun, wenn man bei jemandem eine Essstörung vermutet? Sophia Thiel zu FITBOOK: „Man sollte für die Person da sein, viel kommunizieren und nicht bewerten, was sie isst bzw. nicht isst. Wenn man weiß, die Person möchte Nudeln mit Soße nicht essen, sollte man es ihr trotzdem anbieten, wohlwollend und unterstützend, aber nicht zwingen! Ich persönlich habe in meinem Umfeld Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt.“ Versuchen Sie also nicht, die möglicherweise betroffene Person zu therapieren, sondern bieten Sie Ihre Unterstützung an.
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„Davor warnen, dass die Fitnesswelt auch andere Seiten haben kann“
Nun gehen Sie mit Ihrer Essstörung an die Öffentlichkeit. Ist Ihr Buch „Come Back Stronger“ ein Aufruf an andere Fitness-Influencer*innen für mehr Authentizität?
„Ich glaube, dieses System kann man nicht verändern. Als Fitness-Influencer wird man schnell in eine Schublade gesteckt. ‚Die ist fit, sieht gut aus und gibt mir Input.‘ Auf Social Media wird vieles mit Leichtigkeit vermarktet. Eine Traumfigur haben, Diät halten, alles kein Problem, schwache Momente zeigt man nicht. Inzwischen finde ich, man sollte lieber transparent machen, wie viel Arbeit in dem steckt, was zu sehen ist. Ich hoffe, Fitness wird in Zukunft in mehr Farben und Formen dargestellt als heute. Zum Beispiel bin ich heute stärker als zu meinen definiertesten Zeiten. Und ich möchte in Zukunft auch über unbequeme Themen sprechen und davor warnen, dass die Fitnesswelt auch andere Seiten haben kann.“
Sie haben bei einer Person in ihrem Umfeld den Verdacht, dass er/sie an einer Essstörung leidet? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) empfiehlt, frühzeitigen auf einen Besuch bei einem Arzt, Psychologen oder einer Beratungsstelle hinzuwirken. Von Vorschlägen wird abgeraten, stattdessen soll man die Eigenmotivation durch Vorschläge fördern. Eine anonyme Beratung wird unter der Rufnummer 0221/89 20 31angeboten. Von einer Essstörung Betroffene finden hier Hilfe.