31. Oktober 2022, 5:33 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Schmerzen schränken das Leben der Betroffenen ein und beeinträchtigen langfristig die Lebensqualität. Luise Walther, Expertin für Schmerzmanagement, erläutert bei FITBOOK neun relativ unbekannte Einflussfaktoren.
Um mit Schmerzen richtig umzugehen, ist es wichtig, sie zu verstehen. Nur wer den eigenen Körper versteht, kann ihm vertrauen und smart darauf reagieren. Zu begreifen, was sie bedeuten (und was nicht), ist der Schlüssel im Umgang mit ihnen.
Übersicht
- Was ist Schmerz?
- Entstehung von Schmerzen
- Einflussfaktoren für Schmerzen
- 1. Kontext für die Entstehung
- 2. Rezeptoren und Gewebe
- 3. Die Wahrnehmung des Gehirns
- 4. Verletzung ist nicht gleich Schmerz
- 5. Schmerz als Verhaltensaufforderung
- 6. Unterschiedliche Gehirnbereiche an Schmerzreaktion beteiligt
- 7. Jeder Mensch hat eine individuelle Schmerzneuromatrix
- 8. Schmerz wird im „virtuellen Körper“ erlebt
- 9. „Trampelpfade“ im Gehirn
- Das Wichtigste in Kürze
- Alternative Ansätze für die Schmerzlinderung
Was ist Schmerz?
Schmerz ist eine komplexe Sinnesempfindung, die von Gefahrensensoren im gesamten Körper aufgenommen wird. Diese Gefahrensensoren nennt man auch Nozizeptoren. Deren Informationen werden im Gehirn verarbeitet und interpretiert. Dabei bestehen enge Wechselwirkungen zwischen Schmerzwahrnehmung und Psyche.
Die folgenden zehn Fakten sind dabei den meisten nicht bekannt. Die vom Körper aufgenommenen Informationen, die im Gehirn verarbeitet werden, durchlaufen dabei ein komplexes Netz aus Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gehirnbereichen. Schmerz ist ein Warnsignal des Körpers und weist darauf hin, dass eine Bedrohung vorhanden ist. Dabei reagiert der Schmerz wie eine Alarmanlage, die ausgelöst wird, wenn die Bedrohung zu stark wird und nicht mehr ignoriert werden sollte.
Entstehung von Schmerzen
Schmerz ist eine Reaktion des Nervensystems auf eine Bedrohung. Dabei werden sogenannte Gefahrensensoren aktiviert. Diese senden eine bedrohliche Information an das Gehirn. Wird dabei eine kritische Schwelle überschritten, wird eine Schmerzantwort gesendet.
Dabei arbeitet das Nervensystem immer in drei Schritten:
Es nimmt Informationen auf, verarbeitet und interpretiert diese und sendet bei Bedrohung eine Reaktion: den Schmerz. Die aufgenommenen Informationen können dabei aus der Umwelt kommen, das nennt man dann Exterozeption. Sie können auch aus dem Körperinneren kommen, wie beispielsweise Informationen über Temperatur oder Herzschlag. Das bezeichnet man als Interozeption. Oder sie können aus der Raumposition des Körpers kommen, die sogenannte Propriozeption. Diese Wahrnehmung informiert das Gehirn darüber, wo sich der Körper befindet, ob etwa ein Muskel angespannt ist oder nicht.
Die Informationen werden dann über Nervenbahnen an das Gehirn gesendet und dort miteinander verarbeitet. Je nach Verarbeitung und Information kann das Gehirn dann zum Beispiel bei zu hoher Muskelspannung entscheiden, dass die Situation bedrohlich ist. Entsprechend wird dann als Output eine Schmerzantwort gesendet.
Bei diesem Dreiklang aus eingehenden Informationen, deren Verarbeitung sowie der Reaktion darauf kann es zu unterschiedlichen Einflussfaktoren kommen, welche die Schmerzen beeinflussen.
Einflussfaktoren für Schmerzen
Schmerz gründet immer auf einem Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren.
1. Kontext für die Entstehung
Zunächst ist Schmerz kontextabhängig und multifaktoriell. Im Umgang sollte eine ganze Reihe an Faktoren beachtet werden. Dazu zählen Schlaf, Ernährung, Bewegung, Stresslevel, das soziale Umfeld sowie Atmung – aber auch Augen und das Gleichgewicht können Einfluss nehmen. Und damit können alle einzelnen Aspekte auch einen Lösungsansatz bieten.
2. Rezeptoren und Gewebe
Schmerzen entstehen im Gehirn, Schmerz ist sogar zu 100 Prozent der Zeit eine Ausgabe des Gehirns. Dies bedeutet NICHT, dass periphere Rezeptoren und Gewebe unbeteiligt sind. Dieses sendet jedoch nur Gefahrensignale an das Gehirn.
Bei der Auswertung der eingehenden Informationen und deren Interpretation entscheidet das Gehirn, ob die Bedrohung so stark ist, dass ein Schmerzsignal gesendet wird. Das wird deutlich, wenn man diffuse Rückenschmerzen hat, jedoch kein anatomischer Grund vorliegt. Manchmal reicht schon die Unzufriedenheit im Job, die das Stresslevel steigen lässt und pünktlich zum Wochenstart ein Brennen oder Stechen im Rücken spürbar werden lässt. Auch wenn das Gewebe, die Muskeln oder Bandscheiben gesund sind, kann das Gehirn dennoch Schmerzen senden. Hält die Spannung in den Muskeln an, senden die Gefahrensensoren die Information an das Gehirn. Bleiben diese angespannt, kann das Gefahrenlevel im Gehirn als zu bedrohlich bewertet werden und das Gehirn sendet eine Schmerzantwort.
Auch interessant: Ohne Medikamente! Einfache Übung kann Schmerzen deutlich lindern
3. Die Wahrnehmung des Gehirns
Schmerz ist eine Entscheidung oder ein Konstrukt des Gehirns, das auf der Wahrnehmung einer Bedrohung beruht.
Selbst bei einer Verletzung von Gewebe entscheidet das Gehirn, ob der Schmerz wahrgenommen wird – oder nicht. Ein Beispiel verdeutlicht das: Schneidet sich etwa ein Koch in den Finger, wird er kaum oder überhaupt keinen Schmerz spüren, weil er diese Situation kennt und sie für ihn nicht bedrohlich ist. Schneidet sich jedoch eine Geigerin in den Finger, wird sie den Schnitt als sehr schmerzhaft wahrnehmen, da er für sie und ihren Beruf bedrohlich ist. In beiden Fällen liegt ein Gewebeschaden vor, aber die Schmerzantwort muss nicht gesendet werden. Das entscheidet immer das Gehirn.
Aus diesem Grund sollte das Gehirn das Hauptziel für das Training von Menschen sein, die Schmerzen und Leistungsblockaden haben.
4. Verletzung ist nicht gleich Schmerz
Man kann eine Verletzung haben, aber keine Schmerzen spüren. Und man kann sie spüren, obwohl man keine Verletzung hat. Da Schmerz immer die Aussage darüber ist, ob sich dein Gehirn bedroht fühlt, ist die Verletzung nicht mit Schmerz gleichzusetzen. Das erkennt man zum Beispiel, wenn ein Kind stürzt. Im ersten Moment weint es und schaut auf das aufgeschlagene Knie. Sobald es aber getröstet wird, ist die Verletzung nicht mehr bedrohlich und die Schmerzantwort wird nicht mehr gesendet. Die Verletzung, das offene Knie, ist aber immer noch da. Umgekehrt kann es ebenso sein, dass man Schmerzen spürt, aber keine Verletzung da ist. Das ist häufig bei andauernden Verspannungen der Fall. Oder auch bei Bauchweh, wenn man vor einer unangenehmen Entscheidung oder Situation steht. Der Körper kann dann mit dem Stresslevel nicht gut umgehen und fühlt sich bedroht. Die Reaktion kann dann ein diffuser Schmerz oder ein Unwohlsein sein.
5. Schmerz als Verhaltensaufforderung
Schmerz ist ein Aktionssignal und kein Indikator für eine Schädigung. Das bedeutet, dass Schmerz nicht nur bei einer Schädigung vom Körper gespürt wird. Schmerz ist die Aufforderung zur Verhaltensänderung, um den Körper vor der Bedrohung zu schützen. Wenn man beispielsweise in einer sehr unbequemen Position verharrt, fängt der Körper nach einer bestimmten Zeit an wehzutun. Das Bein oder der Rücken tun weh. Dabei liegt keine Schädigung vor. Sondern das Gehirn sendet Schmerz als Aufforderung, eine andere bequemere Position einzunehmen. Das macht deutlich, wie wichtig sie im Alltag sind. Denn Schmerz ist die einfachste und effektivste Methode, wie wir unser Verhalten ändern können.
6. Unterschiedliche Gehirnbereiche an Schmerzreaktion beteiligt
Schmerz entsteht nicht in einem Schmerzzentrum im Gehirn. Im Gegenteil: An der Schmerzreaktion sind zwölf unterschiedliche Gehirnbereiche beteiligt. Dabei entsteht eine Art Netzwerk zwischen diesen Bereichen. Das nennt man Neuromatrix.
7. Jeder Mensch hat eine individuelle Schmerzneuromatrix
Die Schmerzneuromatrix ist individualspezifisch. Es gibt also eine große Variabilität hinsichtlich der Frage, welche kortikalen Bereiche bei der Schmerzentstehung aktiviert werden.
Wie bereits erwähnt, entstehen Schmerzen im Gehirn durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Gehirnbereiche, die sogenannten kortikalen Bereiche. Dabei ist es von Person zu Person unterschiedlich, wie intensiv die unterschiedlichen Bereiche zusammenarbeiten. Abhängig davon, was jemand in seinem Leben erlebt und erfahren hat, wie man sich bewegt, schläft, isst und verhält, kann die sogenannte Neuromatrix auch innerhalb von Familien unterschiedlich aussehen. Darin liegt auch die Herausforderung im Umgang mit Schmerzen. Es ist erforderlich, die Ansätze für Schmerzmanagement individuell und alltagsspezifisch anzusetzen.
Auch interessant: Selbsttest verrät, wie gut Sie Ihren Körper spüren
8. Schmerz wird im „virtuellen Körper“ erlebt
Das Körperbild, auch „virtueller Körper“, erlebt den Schmerz.
In unserem Gehirn befinden sich sogenannte Landkarten, die unseren Körper abbilden. Diese Körperbilder gibt es für die Sensorik, also das Gefühl und die Wahrnehmung, und für die Motorik, also die Bewegung. Sie speichern die Informationen ab, wie sich unser Körper anfühlt und wie er sich bewegt. Man spricht dann vom virtuellen Körper, also der Abbildung des Körpers im Gehirn. Und genau in diesen Bereichen wird der Schmerz wahrgenommen – und eben nicht im Körperteil an sich. Das erklärt auch, warum Menschen Phantomschmerzen erleben können. Nach Amputationen beispielsweise klagen Betroffene immer wieder über höllische Schmerzen in dem fehlenden Körperteil. Im Gehirn ist aber der „virtuelle Körper“, die Landkarte, noch abgespeichert. Die Bedrohung ist dort extrem hoch angesetzt, da das Gehirn keinerlei Informationen mehr über die Sensorik oder Motorik in diesem Bereich bekommt, sodass Schmerzen entstehen.
9. „Trampelpfade“ im Gehirn
Wiederkehrende Schmerzen verändern die Struktur des Gehirns. Die Neuromatrix, also die unterschiedlichen Bereiche im Gehirn, die bei Schmerzen untereinander kommunizieren, manifestiert sich. Das kann man sich vorstellen wie ein Trampelpfad, der sich immer weiter ausbreitet. Erleben wir also immer wieder Schmerzen, lernt das Gehirn, die Schmerzantwort automatisch abzurufen, auch wenn die Bedrohung schon gar nicht mehr vorhanden ist. Das passiert beispielsweise bei chronischen Schmerzen. Eine vergangene Bedrohung findet gar nicht mehr statt, aber das Gehirn hat die Reaktion so oft abgerufen, dass es gelernt hat, den Schmerz abzuspeichern und immer wieder abzurufen.
Das Wichtigste in Kürze
Schmerz ist Individuell, persönlich und privat. Schmerz bildet man sich niemals ein! Schmerz ist immer eine Reaktion des Körpers auf eine wahrgenommene Bedrohung. Was diese Bedrohung auslöst, ist individuell – und damit bieten sich individuelle Lösungsansätze.
Nicht nur eine optische Veränderung Auswirkungen von Narben auf Körper und Gehirn
Neurozentriertes Training für jeden Übungen, mit denen man Schmerzareale im Gehirn erreichen kann
Neurozentriertes Training Übungen, die gegen Kopfschmerzen helfen können
Alternative Ansätze für die Schmerzlinderung
Handelt es sich nicht um eine akute Verletzung, die Schmerz verursacht, kann man viele Faktoren berücksichtigen, um die Schmerzen zu lindern. Für den einen ist es mehr Bewegung, für den anderen mehr Schlaf, bessere Ernährung oder ein Umgebungswechsel. Es kann auch die Veränderung des beruflichen oder sozialen Umfeldes sein oder die Auseinandersetzung mit eigenen Erwartungen und Vorstellungen.
Auch interessant: Beim Behandeln von Rückenschmerzen können wir von Astronauten lernen
Das Wichtigste ist, Schmerzen ernst zu nehmen und zu verstehen, wie sie entstehen. Erst dann kann man smart darauf reagieren, den eigenen Körper verstehen und ihm wieder vertrauen.
Haben Sie eine Frage aus dem Bereich Fitness oder Ernährung? Schicken Sie uns diese gerne zu – per Mail an info@fitbook.de. Wir wählen die interessantesten Fragen aus und beantworten sie mit Unterstützung unseres Experten-Teams und der aktuellen Studienlage. Wir sind gespannt!