6. April 2023, 20:13 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Im Herbst 2022 offenbarte Sänger Lewis Capaldi, dass er am Tourettesyndrom leidet. Gleichzeitig hatte er sein noch unveröffentlichtes zweites Album fertiggestellt. Jetzt zeigt eine Netflix-Doku den Kampf des Musikers mit seiner Erkrankung, die sogar dafür sorgte, dass Familie und Freunde ihn dazu brachten, die Reißleine zu ziehen und die Fertigstellung des besagten Albums hinauszuschieben.
Im September verriet Lewis Capaldi in einem Interview und in einem Instagram-Live-Video, dass er die Diagnose Tourettesyndrom erhalten habe. Der Schritt in die Öffentlichkeit war ihm deshalb wichtig, weil ihm aufgrund seines manchmal unruhigen Verhaltens bereits Drogenkonsum unterstellt worden war. Dabei war dieses auf die für die Krankheit typischen, als Tics bezeichneten Symptome zurückzuführen. Noch offener geht der Musiker mit seinem Leiden in der aktuell bei Netflix laufenden Doku „Lewis Capaldi: How I’m Feeling Now“ um. Vordergründig geht es um die Arbeit am zweiten Album und seine Rückkehr in seinen Heimatort während der Coronapandemie. Doch zieht sich durch den gesamten Film auch der rote Faden seiner mentalen Gesundheit, seiner Unsicherheiten und Ängste und die Entwicklung immer ausgeprägterer Tics. Der traurige Höhepunkt: Ein Tourette-Anfall auf der Bühne und die Einsicht, dass es ohne therapeutische Hilfe nicht mehr geht.
Übersicht
Was ist das Tourettesyndrom?
Das Tourettesyndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung. Sie äußert sich durch motorische und/oder vokale Tics. Das heißt, es kommt zu plötzlich auftretenden, raschen, sich wiederholenden, zumeist nicht rhythmischen Bewegungen oder Lauten. Aufgrund ihrer Symptomatik wird das Tourettesyndrom daher auch als Tic-Störung bezeichnet.1
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Lewis Capaldis Tourette-Symptome
Wie Lewis Capaldi im September beschrieb, äußert sich die Krankheit bei ihm mit motorischen Tics, insbesondere durch unkontrolliertes Zucken und Verkrampfen. Davon können sich Zuschauer seiner Doku nun selbst ein Bild machen. Sowohl in Szenen bei seinen Eltern zu Hause, als auch im Studio, mit Kollegen und Freunden, und auf der Bühne ist deutlich zu sehen, wie die Tics Capaldi zu schaffen machen.
Tiefpunkt in Wembley 2020
„Während der gesamten Arena-Tour konnte man beobachten, wie er gekämpft hat. Jeder Gig war ein Kampf“, berichtet Capaldis Mutter. „Und dann brach in Wembley alles zusammen.“ Dort zuckte Capaldis Körper auf der Bühne vor Tausenden von Zuschauern so stark, dass er die Worte seines Songs nicht mehr artikulieren konnte und seinen Auftritt unterbrechen musste. Während das Publikum ganz ruhig wurde, versuchte Capaldi minutenlang, seinen Körper in den Griff zu bekommen. „Das Zucken geriet außer Kontrolle. Es war schlimm, absolut schrecklich“, erinnert sich der Sänger selbst an diesen Moment. Und sein Vater sagt unter Tränen: „Es brach mir das Herz.“
Mentaler Druck, Selbstzweifel, Panikattacken
Capaldis Zustand verschlechterte sich in der Zeit danach, als er in L.A. weiter versuchte, sein zweites Album fertig zu bekommen. Körperlicher Stress, der Druck, an seine Erfolge nahtlos anzuknüpfen sowie die Verantwortung für sein Team führten zu noch mehr Selbstzweifeln, Ängsten – und Panikattacken.
Attacken, durch die ihm zeitweise offenbar nur seine Mutter hindurchhelfen konnte. Sie rief er mitten in der Nacht an, wie die Doku zeigt. Capaldi beschreibt solche Momente wie folgt: „Wenn ich eine Panikattacke habe, fühlt es sich an, als würde ich wahnsinnig werden. Ich bin dann komplett losgelöst von der Realität. Ich kann nicht atmen, mit wird schwindelig. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Kopf passiert. Ich schwitze. Und mein gesamter Körper macht dann, was normalerweise nur meine Schulter macht, zucken und krampfen. Es fühlt sich für mich dann so an, als ginge das nie vorüber oder als müsste ich sterben.“
Seine Mutter konnte ihn beruhigen, indem sie ruhig mit ihm sprach und atmete. Manchmal stundenlang. „Manchmal bis zu sieben Stunden lang“, verriet Capaldis Vater.
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Zwangspause von der Arbeit am Album
Schließlich verschlimmerte sich die Situation so sehr, dass sogar Lewis Capaldis Manager ihm kaum noch beim Leiden zuschauen konnte. Er, sein Team und Capaldis Familie brachten den Sänger schließlich dazu, die Arbeit am Album zu unterbrechen und sich Hilfe zu suchen.
Tourette-Symptome mildern – das hilft Lewis Capaldi
Dank ärztlicher und therapeutischer Hilfe erfuhr Lewis Capaldi nicht nur, was hinter seinen körperlichen Symptomen steckte – nämlich das Tourettesyndrom – sondern probierte auch Mittel und Wege, sie zu lindern. So ließ er sich zunächst mit einer Botox-Injektion in die Schulter behandeln, was zwar half, aber nur kurze Zeit.2 Neben dem Medikament Sertralin, das bei ihm jedoch leider unerwünschte Nebenwirkungen auf die Libido hatte, versuchte der Musiker zudem die Behandlung mit Cannabis-Öl, machte aber auch damit keine gute Erfahrung. Die Zuckungen wurden zwar weniger, die Panikattacken dafür aber häufiger.
Größeren Erfolg hatte die Erkenntnis des 26-Jährigen, dass er sich um seine mentale Gesundheit kümmern muss. So versteht er nun, dass diese und die Ausprägung der Tourette-Symptome zusammenhängen. „Es ist mental. Ich versuche daher jetzt, meine Angststörung im Griff zu haben, sie auf einem niedrigen Level zu halten“, verriet Capaldi u. a. im Podcast „Zach Sang Show“. Auch die Doku zeigt, dass es Capaldi half, sich mehr Ruhe zu gönnen, seinen Stress zu reduzieren und sich ausgewogen zu ernähren.
Lewis Capaldi ging es besser
Die Maßnahmen führten offenbar dazu, dass sich Capaldis Zustand verbesserte – und er auch seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Anfang September konnten sich seine Fans über die Veröffentlichung seines Songs „Forget Me“ freuen. Das dazugehörige zweite Album ist ebenfalls fertig und wartet auf seine Veröffentlichung im Mai.
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Musik kann die Symptome von Tourette mildern
Während Lewis Capaldi Abstand von seiner Musik und seiner Karriere brauchte, um den Umgang mit dem Tourettesyndrom zu lernen, kann Musik bei Betroffenen generell eine therapeutische Wirkung auf Tics haben. Laut der Forschung gibt es Belege, dass Musik Tourette-Patienten tatsächlich helfen kann, indem es die Symptome mildert.3
Was eine Studie aus dem Jahr 2015 herausfand
Im Jahr 2015 gingen Forscher der Universität Münster der Frage auf den Grund, wie Musik sich auf die Tics bei Tourette-Patienten auswirkt. Dafür ließen sie 29 Probanden zunächst einen Fragebogen ausfüllen. Dieser erfasste, ob Musizieren und/oder Musikhören einen positiven oder negativen Einfluss auf die Tics hatte. Im zweiten Teil der Studie führten die Wissenschaftler bei acht Probanden Messungen durch. Dabei maßen sie die Tics unter fünf Versuchsbedingungen: Ausgangswert, musikalische Darbietung, kurze Zeit nach der musikalischen Darbietung, beim Musikhören und Sehen von Musikbildern. Die Tics wurden anhand von Videobändern gezählt.
Besonders positiver Effekt beim aktiven Musizieren
Sowohl die Angaben der Probanden anhand des Fragebogens als auch das nachfolgende Experiment ergaben, dass Musik die Tics tatsächlich reduzieren kann. Sowohl die musikalische Darbietung, das Hören von Musik als auch die mentale Vorstellung einer musikalischen Darbietung verringerten die Tic-Häufigkeit signifikant. Am stärksten war die Reduktion bei der musikalischen Darbietung also, wenn die Probanden selbst Musik machten. Die Tics hörten in diesem Fall fast vollständig auf. Die Verringerung der Tics hielt zudem auch noch für eine kurze Zeit nach Beendigung der musikalischen Darbietung an. Eine mögliche Erklärung für den positiven Effekt der Musik ist laut der Forscher, dass sich die Tourette-Betroffenen ganz auf sie fokussieren. Beim aktiven Musizieren werden zudem feinmotorische Funktionen und ein zielgerichtetes Verhalten benötigt.4
Musik und Tourette – für Lewis Capaldi ein Balanceakt
Auch, wenn Lewis Capaldi noch nicht die optimale Methode gegen seine Tics gefunden hat, so ist er doch froh, endlich zu wissen, dass seine Tics vom Tourettesyndrom ausgelöst werden und mit seiner mentalen Verfassung zusammenhängen. Das gibt ihm die Chance, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wenn sich seine Erkrankung wieder verschlimmert.
Denn trotz der körperlichen und mentalen Hindernisse kann er sich nichts Schöneres als eine lange Musikkarriere vorstellen. „Es fühlt sich einfach richtig für mich an, auf der Bühne zu stehen, vor 50.000 Menschen“, betont Capaldi am Ende seiner Doku.
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Quellen
- 1. Tourette Gesellschaft e.V. Was ist das Tourette-Syndrom / sind Tic-Störungen? (aufgerufen am 18.10..2022)
- 2. McLean. Lewis Capaldi exclusive: “People thought I was on coke”. The Face. (aufgerufen am 18.10.2022)
- 3. Brown, W.C. (2016). Influence of Musical Engagement on Symptoms of Tourette’s Disorder. University of South Florida.
- 4. Bodeck, S., Lappe, C., Evers, S. (2015). Tic-reducing effects of music in patients with Tourette’s syndrome: Self-reported and objective analysis. Journal of the Neurological Sciences.