14. April 2022, 21:10 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Es klingt unfassbar, ist aber tatsächlich wahr: Amerikanische Forscher haben ein Medikament entwickelt, das gehörlose Menschen wieder hören lässt. Das wurde nun in ersten Studien bestätigt. FITBOOK hat alle Infos dazu.
Das Gehör ist ein sensibles Sinnesorgan. Leider wird das einem erst bewusst, wenn das Hörvermögen verloren geht. Und das passiert oft schleichend und unbemerkt. Sowohl durch das Älterwerden (speziell ab dem 50. Lebensjahr) als auch durch jahrelangen Lärm verliert man allmählich sein Gehör. Aber nicht nur dadurch. Auch durch Vererbung, eine Infektion, Medikamente oder einen Unfall kann das Hörvermögen abnehmen. Das größte Problem dabei: Hörverlust lässt sich nicht rückgängig machen. Bis jetzt. Denn Forscher vom amerikanischen MIT haben ein Medikament entwickelt, das gehörlose Menschen wieder hören lässt.
Übersicht
Medikament für Gehörlose statt Hörapparat
„Das Hören ist ein so wichtiger Sinn. Es verbindet Menschen mit ihrer Gemeinschaft und kultiviert ein Identitätsgefühl“, sagt Professor Jeff Karp, einer der beteiligten Wissenschaftler, in einer Mittleilung des Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Ich denke, das Potenzial zur Wiederherstellung des Hörvermögens wird enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft haben“, kommentiert er die Entwicklung seines Medikaments. Doch worum geht es da eigentlich?
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Jeff Karp ist einer der Köpfe der Biotech-Firma „Frequency Therapeutics“, die von Wissenschaftlern des MIT gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, Menschen ihr Gehör wiederzugeben und zwar nicht mit Hörgeräten, sondern durch ein Medikament, das ins Ohr injiziert wird. Dabei verwenden sie kleine Moleküle, um sogenannte Vorläuferzellen (Nachkommen von Stammzellen) im Innenohr so zu programmieren, dass sie sich zu winzigen Haarsinneszellen entwickeln. Denn genau diese lassen uns hören.
„Ich denke, wir haben einen Durchbruch“
Vorläuferzellen (auch Progenitorzellen genannt) befinden sich im Innenohr und erzeugen Haarsinneszellen während der menschlichen Entwicklung im Mutterleib. Doch kurz vor der Geburt werden sie inaktiv und verwandeln sich nie wieder in spezialisiertere Zellen wie eben jene im Innenohr. Deswegen können sich abgestorbene Haarsinneszellen nicht neu herausbilden. Ein Neugeborenes hat etwa 15.000 davon, die jedoch mit der Zeit unter Abnutzungserscheinungen leiden oder teilweise absterben. Infolgedessen nimmt die Hörleistung ab, bei einigen Menschen führt das sogar zu irreparablen Hörschäden. Ein Medikament für Gehörlose, das diesen Prozess stoppen oder umkehren könnte, gab es bislang nicht.
Den Forschern von „Frequency Therapeutics“ ist es bereits 2012 im Labor gelungen, Tausende der Vorläuferzellen in Haarsinneszellen zu verwandeln.1 Es sei das erste Mal gewesen, dass so etwas erreicht werden konnte, erinnert sich Prof. Karp, der zum damaligem Zeitpunkt seinen schwerhörigen Vater und den Rest der Familie besuchte. „Ich sah sie an und sagte: ‚Ich denke, wir haben einen Durchbruch‘“, so Karp. Es sei das erste und einzige Mal gewesen, dass er diesen Satz benutzte.
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Auf die Idee mit den Vorläuferzellen kam man übrigens bei der Erforschung des menschlichen Darms, dessen Oberfläche sich fast täglich regeneriert. Dabei entdeckten die Wissenschaftler, dass jene Moleküle, die die Stammzellen des Darms kontrollieren, auch von den sogenannten Vorläuferzellen verwendet werden. Ähnlich wie Stammzellen können sich Vorläuferzellen zu spezialisierteren Zellen im Körper verwandeln.
Erste Studien belegen Wirksamkeit
Seit 2012 ist viel passiert. Gleich in mehreren klinischen Studien zeigten die Wissenschaftler, dass die Haarsinneszellen nicht nur im Labor wachsen, sondern auch tatsächlich im menschlichen Ohr. Man habe das Hörvermögen von Probanden verbessert, insbesondere die Fähigkeit, Sprache zu verstehen und Wörter zu erkennen. „Die Sprachwahrnehmung ist das Hauptziel zur Verbesserung des Hörvermögens und das wichtigste Bedürfnis, das uns Patienten nennen“, sagt Dr. Chris Loose, ebenfalls Mitbegründer von „Frequency Therapeutics“.
In der ersten klinischen Studie von „Frequency Therapeutics“ stellte man bei einigen Teilnehmern nach einer einzigen Injektion deutliche Verbesserungen der Sprachwahrnehmung fest.2 Einige davon hielten bis zu zwei Jahre an. Bislang wurden mehr als 200 Patienten in drei verschiedenen Studien behandelt und zeigten dabei teilweise Verbesserungen der Sprachwahrnehmung. Lediglich in einer Studie konnte man keine positiven Ergebnisse erzielen. Die Forscher führen dies jedoch auf Designmängel der Studie zurück.
Gehör könnte in ein bis zwei Stunden wiederhergestellt werden
„Ich wäre nicht überrascht, wenn wir in zehn oder 15 Jahren aufgrund der Ressourcen, die in diesen Bereich gesteckt werden, und der unglaublichen Forschung, die betrieben wird, an einen Punkt kommen, an dem die Wiederherstellung des Hörvermögens einer Augen-Lasik-Operation gleicht“, sagt Prof. Karp. So könne man in ein oder zwei Stunden nicht nur wie bislang die Sehkraft wiederherstellen, sondern auch das Gehör.
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Obwohl die ersten Studien vielversprechend sind und die Forscher diese selbst geradezu euphorisch feiern, ist die Zahl der erfolgreich behandelten Probanden noch relativ gering. Deswegen rekrutiert man derzeit für eine neue Untersuchung 124 weitere Probanden. Die ersten Ergebnisse sollen Anfang kommenden Jahres vorliegen. Ein funktionierendes Medikament für gehörlose Menschen wäre tatsächlich eine medizinische Revolution.
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Quellen
- 1. Yin X, Farin HF, Karp JM, et al. (2014). Niche-independent high-purity cultures of Lgr5+ intestinal stem cells and their progeny. Nat Methods.
- 2. McLean Will J, Hinton Ashley S, Herby Jenna TJ, et. al. (2021). Improved Speech Intelligibility in Subjects With Stable Sensorineural Hearing Loss Following Intratympanic Dosing of FX-322 in a Phase 1b Study. Otology & Neurotology.