5. März 2021, 11:48 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Leistenschmerzen können verschiedene Ursachen haben. Oft muskuläre Defizite dahinter, die mit den Adduktoren – den Muskeln an den Innenseiten der Oberschenkel – zusammenhängen. Wie sie entstehen und welche Therapiemöglichkeiten sich bewährt haben, ließ sich FITBOOK von mehreren Experten erklären.
Nicht nur Profifußballer, sondern auch Hobbysportler leisten häufig unter Leistenschmerzen. FITBOOK sprach mit einem ausgewiesenen Expertenduo über deren Entstehung und funktionelle Therapieansätze: Dr. Ralf Doyscher ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und seit 2018 Mannschaftsarzt beim Fußball-Bundesligisten Borussia Mönchengladbach. Hendrik Schreiber ist leitender Physiotherapeut bei den „Fohlen“. Zuvor haben beide im Medical Team des 1. FC Union Berlin zusammengearbeitet.
Übersicht
Wie entstehen Leistenschmerzen?
Leistenbeschwerden können verschiedene Auslöser haben, die Ursache liegt in der Regel in:
- Problemen des Hüftgelenks
- Problemen der Lendenwirbelsäule und des Iliosakralgelenks (verbindet die untere Wirbelsäule mit dem Becken)
- Problemen einer sogenannten „weichen Leiste“ (mehr dazu erfahren Sie hier)
- Problemen mit Blockaden und Gelenk-Fehlstellungen (Becken-Bein-Achse)
- Muskulären Problemen (u.a. spezifische Kraftdefizite, Verspannungen)
- falschem oder sogar kontraproduktivem Kraft- und Stabilisationstraining
Häufig liegt eine Kombination aus verschiedenen Problemen vor, die zu Schmerzen im Leistenbereich bis hin zu einer Schambeinentzündung führen.
Bedeutung des Musculus pectineus
Gerade im Fußballbereich stecken oft muskuläre Defizite hinter Leistenbeschwerden – allen voran solche, die Dr. Doyscher und Schreiber als „adduktorenassoziierte Leistenschmerzen“ beschreiben. Also Leistenschmerzen, die mit den Adduktoren – den Muskeln an den Innenseiten der Oberschenkel – zusammenhängen.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang ein ganz bestimmter Muskel, der Musculus pectineus (lat. für „Kammmuskel“). Dieser ist Teil der Adduktorengruppe. Er wird bei fast allen fußballtypischen Bewegungen des Schussbeins beansprucht, dient aber auch im Standbein dazu, das Becken zu stabilisieren. Aufgrund seiner hohen Belastung ist er bei Fußballern oft überspannt und bereitet (Druck-)Schmerzen. Dadurch kommt ihm bei der Entstehung und damit auch der Therapie von muskulär bedingten Leistenbeschwerden eine Schlüsselrolle zu.
Dr. Doyscher zufolge biete sich zwei Behandlungsformen an, mit denen man die überhöhte Muskelspannung effektiv senken kann: Dry Needling und eine Stoßwellentherapie.
Therapiemöglichkeiten bei Leistenbeschwerden
Dry Needling
Auf den ersten Blickt ähnelt Dry Needling einer Akupunktur-Behandlung. Schließlich sticht man auch hier mit Einwegnadeln in spezielle Körperpunkte. Doch während man bei Akupunktur in Meridiane (in der traditionellen chinesischen Medizin Kanäle, in denen die „Lebensenergie“ fließen soll) sticht, behandelt man bei Dry Needling spezielle Triggerpunkte. Damit ist Dry Needling eine Form der Triggerpunkt-Therapie, nur dass man nicht manuell, also mit den Händen, sondern mit einer Nadel arbeitet.
Triggerpunkte sind Verspannungspunkte in verhärteten Muskeln. Neben einem lokalen Druckschmerz kann der Schmerz häufig auch ausstrahlen. Das heißt: Der zu behandelnde Schmerz kann seinen entsprechenden Triggerpunkt in einem entfernten Körperareal haben. Der Klassiker: Kopfschmerzen, die aufgrund eines verspannten Nackens auftreten. In unserem Fall der Leistenbeschwerden wäre der Triggerpunkt vereinfach gesagt ein verspannter Kammmuskel.
Stoßwellen
Eine ähnlich detonisierende, also entspannende, Wirkung kann man mit Stoßwellen erzielen. Diese sind nichts anderes als Druckwellen und werden elektromagnetisch mithilfe einer sogenannten Schallsonde erzeugt. Ihre Energie setzen Stoßwellen erst unter der Haut und gezielt im zu behandelnden Gewebe frei, ohne darüberliegendes Fett- oder Muskelgewebe zu schädigen.
Im Gegensatz zum Dry Needling muss bei der Stoßwelle die Eindringtiefe im Vorfeld der Behandlung festgelegt werden. In beiden Verfahren lassen sich gerade tiefliegende Strukturen gut erreichen. Das ist vor allem dann von Vorteil, wenn man beispielsweise beckennahe Muskelschichten wie den Musculus pectineus sicher und gezielt erreichen will. Auch der gemeinsame Einsatz von radialen und fokussierten Stoßwellen habe sich laut Schreiber in der Praxis bewährt, da sich so die Breitenwirkung der radialen Stoßwelle auf der einen Seite mit der punktgenauen Wirkung und hohen Eindringtiefe der fokussierten Stoßwelle auf der anderen Seite kombinieren lasse.
Die Bauchmuskulatur muss „richtig“ trainiert werden
Die Erfahrung aus dem Profifußball habe laut Schreiber gezeigt, dass bei Spielern mit Leistenbeschwerden immer wieder ähnliche muskuläre Defizite vorliegen. Konkret heißt das, dass die untere Bauchmuskulatur sowie die Muskulatur, die das Becken stabilisiert (kleine Gesäßmuskulatur), zu schwach ausgebildet sind, obwohl gerade die beiden für Fußballer besonders wichtig sind. Das hat vor allem damit zu tun, dass im Training häufig nur die obere und schräge Bauchmuskulatur im Fokus stehen. Und dann meist in einer verkürzten Position wie bei dem Klassiker unter den Bauchmuskel-Übungen: Sit-ups.
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Besser geeignet für den Fußballsport sei hingegen ein Training bei gestrecktem bzw. aufgerichtetem Oberkörper, da dies auch der Position beim Fußballspielen entspricht und so die richtigen und entscheidenden Anteile der Rumpfmuskulatur trainiert werden.
So können diese Muskeln den Rumpf und das Becken auch während des Fußballspielens besser stabilisieren, was andere Muskeln (wie die Adduktoren!) entlastet. Hier schließt sich dann der Kreis zu den Leistenproblemen.
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Das sagt ein unabhängiger Experte
Wir wollten von einem weiteren Fachmann wissen, was er von Dry Needling und Stoßwellen hält: Dr. med. Mathias Schettle, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Eigentlich auf konservative Behandlungsmethoden spezialisiert, betrachtet Dr. Schettle die genannten alternativ-medizinischen Verfahren als „sehr hilfreich und risikoarm“. Er wendet sie daher zumindest begleitend zu konventionellen Methoden (wie Injektionen und Physiotherapie) an. Dr. Schettle glaubt, beide Methoden wären in Deutschland verbreiteter, wenn es sich bei ihnen um Kassenleistungen handeln würde. Das treffe bislang (und erst seit Dezember 2018) nur auf die Stoßwellentherapie bei Fersensporn zu.
Auch auf Schettles Behandlungsliege gehört der Fersensporn zu den üblichen Indikationen für eine Stoßwellentherapie, ebenso wie die „Kalkschulter“. Dass Stoßwellen auch bei muskulär bedingten Leistungsschmerzen zum Einsatz kommen können, war ihm bisher nicht bekannt. Der Experte weiß aber: Bevor man jene fußballtypischen Beschwerden behandelt, seien Ursachenforschung und eine Differenzialdiagnostik besonders wichtig. „Weiche Leiste, Leistenbruch – es gibt verschiedene Krankheitsbilder, die hier eine Rolle spielen können“, erklärt er. „Im Sportbereich ist meist eine Überbelastung, dauerhafte Fehlbelastung oder Kombination aus beidem schuld.“
Damit stimmt er Hendrik Schreiber und Dr. Doyscher zu, die im Interview mit FITBOOK betonen, dass jede gute Therapie mit einer gründlichen Untersuchung beginnt: „Eine umfassende strukturelle und funktionelle Diagnose stellt den Schlüssel zu einer erfolgreichen Behandlung dar.“ Nicht zuletzt auch bei Leistenbeschwerden, die so unterschiedliche Ursachen haben können.
Wann man Stoßwellen nicht anwenden sollte
Grundsätzlich sei die Therapie gut verträglich, sagt Dr. Schettle, „in sehr seltenen Fällen gibt es Blutergüsse.“ Bei Patienten, die auf Blutverdünner angewiesen sind, sollte man eine Indikation für die Stoßwellentherapie genauer prüfen. Im Brustkorb – also in der Nähe des Lungengewebes, das durch die Stoßwelle geschädigt werden könnte – ist von der Behandlung abzusehen. Und klar: Mit Tumorzellen befallenes Gewebe ist tabu.
Dry Needling und Leistenschmerzen – das klingt für den Facharzt fast noch naheliegender. Schließlich sei die Behandlungsmethode gerade bei muskulären Verhärtungen, die ausstrahlen können (also den bereits vorgestellten Triggerpunkten), besonders sinnvoll und erfolgversprechend.
Charité-Studie bestätigt Wirkung von Dry Needling
Die sportmedizinische Abteilung der Charité hat unter Leitung von Dr. Doyscher und Hendrik Schreiber retrospektiv die Daten von 11 Spielern vom 1. FC Union Berlin, die wegen Leistenschmerzen mit der zuvor beschriebenen Kombinationstherapie behandelt wurden, ausgewertet. Ziel war es herauszufinden, was diese kombinierte Schmerztherapie aus (frühem) Dry Needling und einem speziellen Trainingskonzept über den Erhebungszeitraum von 5 Jahren gebracht hat. Behandelt wurde in erster Linie der Musculus pectineus, der wie schon erklärt in Zusammenhang mit Leistenbeschwerden gebracht wird.
Das erstaunliche Ergebnis: Schon eine Woche (!) nach der ersten Sitzung hatte sich das subjektive Schmerzempfinden deutlich verringert. Und das Wichtigste aus Sicht eines Fußballvereins: In den fünf Jahren des Erhebungszeitraums gab es keine Liga-Ausfälle mehr aufgrund anhaltender Leistenbeschwerden.
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Fazit
Die Ursachen von Leistenschmerzen im Fußballsport können vielfältig sein, die Therapie oft langwierig. In der Praxis hat sich eine Kombination aus Dry Needling und Stoßwellen mit gezielten Aufbauübungen für bestimmte Muskeln als äußerst effektiv erwiesen. Dabei können schon Details in der Ausführung spezieller Übungen (wie z.B. beim Bauchmuskeltraining) einen großen Unterschied machen und den Erfolg mitbedingen.