9. März 2021, 5:16 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Seit fast genau drei Jahren verzichtet Nuno Alves, Editorial Director von FITBOOK, auf alles, was raffinierten Zucker enthält. Was genau ihn dazu veranlasst hat, seine Ernährung derart umzustellen, obwohl er immer einen Hang zu Süßigkeiten hatte, und wie es ihm ohne den weißen Stoff ergeht, lesen Sie im ersten Teil seiner Kolumne.
Eigentlich war ich seit jeher ein Zuckerjunkie. Als Kind aß ich täglich Süßes. Morgens ein warmer Kakao mit ein bisschen Extra-Zucker zum ohnehin schon gesüßten Pulver, dazu ein Brot mit Marmelade, in der Schule dann Fruchtsaftgetränke und Waffelschnitten, nachmittags Gummibärchen und Schokobutterkekse, abends zum Essen eine Limo und zum Nachtisch noch eine kleine Süßigkeit. Dick war ich zwar nie, aber wohl eher deswegen, weil ich mit Fußball und anderem Sport sehr viel Bewegung im Alltag hatte. Ein Leben ohne Zucker? in meiner Kindheit und Jugend war ich ziemlich weit davon entfernt.
Als Erwachsener ging das mit dem mehr oder weniger ungezügelten Zuckerkonsum weiter. Und bis auf hin und wieder etwas erhöhte Nüchternblutzuckerwerte bei den Routineuntersuchungen (die aber dennoch im Rahmen waren) schien ich auch keinerlei mit den Süßigkeiten verbundene gesundheitliche Probleme zu haben. Und dennoch entschied ich mich im März 2018, den Zucker ganz aus meinem Speiseplan zu streichen. Warum? Aus Solidarität mit meinem Vater.
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Der zuckerhungrige Hirntumor meines Vaters
Bei ihm war wenige Wochen zuvor ein Glioblastom, ein bösartiger Hirntumor, diagnostiziert worden, der ihn nur wenige Monate später aus dem Leben reißen sollte. Und obgleich wir wussten, dass dieser Gegner beinahe unbezwingbar war, versuchten wir alles, um aus dieser ungerechten Diagnose einige weitere Lebensjahre oder wenigstens Wochen herauszuquetschen.
Ich las mich in unzählige Studien ein, informierte mich über neuartige Behandlungen und tauschte mich mit Ärzten aus. Irgendwann stieß ich auf einen brasilianischen Neurochirurgen und Universitätsprofessor aus Rio de Janeiro, der an einer neuen Methode bei der Glioblastom-Therapie forscht. Bei einem Video-Call mit ihm und meinem Vater sprachen wir darüber, was wir neben der klassischen Chemo- und Strahlentherapie noch tun könnten, um unsere Chancen in diesem ungleichen Kampf zu erhöhen. Leider war es nicht möglich, meinen Vater der von ihm erforschten Alternativbehandlung zu unterziehen. Aber immerhin: Er empfahl uns eine Ernährungsumstellung. Das Ziel: den Tumor mit einer radikalen Reduktion von Kohlenhydraten – und damit Zucker – auszuhungern. Denn Glioblastome sind zuckerhungrig.
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Die Ärzte sagten: „Lassen Sie ihn doch essen, was er möchte“
In Absprache mit den behandelnden Medizinern passten wir also den Speiseplan meines Vaters an. Viele verarbeitete Lebensmittel und vor allem auch Süßigkeiten sollten fortan tabu sein, sowie alles, worin sich Zucker versteckte.
Damals empfand ich es wie eine weitere Strafe für meinen Vater, der durchaus gern Schokolade aß oder auch mal ein Brot mit Marmelade. Und in gewisser Weise fühlte ich mich mitverantwortlich dafür, weil ich wie ein Getriebener nach alternativen Behandlungsmethoden gesucht hatte.
Die klassische Therapie sah keinerlei Einschränkungen in der Ernährung vor, im Gegenteil. Die behandelnden Ärzte sagten: „Lassen Sie ihn doch essen, was er möchte.“ Ich verstand es so, als sei nun jede Mahlzeit eine Henkersmahlzeit. Und es klang nach: aufgeben. Für mich kam das nicht infrage.
Bis heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich meinen Vater damals zum Verzicht trieb, statt ihn nochmals genießen zu lassen.
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Ein Leben ohne Zucker als gemeinsames Projekt
Mir war seine Entbehrung bewusst. Während alle am Tisch den Nachtisch aßen, gab es für meinen Vater einen einfachen Naturjoghurt. Er beklagte sich nicht, doch ich empfand es als unfair, ihn allein verzichten zu lassen. Und so entschloss ich mich schließlich, mich ihm anzuschließen. Ein Leben ohne Zucker als gemeinsames Projekt – in der Hoffnung, das Unvermeidbare etwas hinauszögern zu können.
Ja, es war sicher auch eine Art Ablasshandel: Indem ich ebenfalls verzichtete, fühlte es sich ein bisschen weniger schlimm an, dass ich ihn um all das Süße gebracht hatte. Ich hoffte wirklich, wir könnten den Tumor aushungern – und unterschätzte, dass sich das gefräßige Ding in seinem Kopf von viel mehr als nur Zucker ernährte.
Nach dem Tod meines Vaters führte ich den Zuckerstreik fort. Jedes Mal, wenn mir heute jemand eine Süßigkeit anbietet und ich ablehne, denke ich an meinen Vater. Und ich muss oft an ihn denken.
Hier geht’s zu Teil 2 der Kolumne:
Auch Sie versuchen, ohne Zucker zu leben? Schreiben Sie Nuno Alves an zuckerfrei@fitbook.de.