25. Juni 2020, 17:38 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Experten gingen beim Coronavirus bisher davon aus, dass für eine Herdenimmunität eine Durchseuchung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung ausreichen würde. Nun glauben Forscher, dass ein weitaus geringerer Wert ausreichen könnte: 43 Prozent. Genau diesen Anteil erreicht die Tiroler Gemeinde Ischgl, wie eine Antikörper-Studie zeigt.
In England schert sich mittlerweile kaum jemand mehr um Corona. Die Hitze treibt die Massen an die Strände. Angst vor der Ansteckungsgefahr durch das Virus? Fehlanzeige. Die wankelmütige Haltung ihres Premiers zu dem Virus scheinen die Menschen auf der Insel vergessen zu haben. Boris Johnson polterte lange und laut, SARS-CoV-2 sei ein Witz. Bis der Mann selbst schwer daran erkrankte.
Zuvor jedoch forderten Johnson und seine Experten, die Leute sollten Fußball-Stadien füllen und sich bewusst mit dem Virus infizieren. Die Herdenimmunität würde alle schnell resistent machen gegen Corona, so die Annahme. Ein schwerer Fehler, der zur Tragödie führte. Großbritannien ist eines der Länder weltweit mit den meisten Corona-Toten.
Der Begriff Herdenimmunität wirkt in Bezug auf Menschen mitunter befremdlich. Eine Herde? Darunter versteht man in der Regel eine Gemeinschaft von Tieren, wie Rinder oder Lämmer. Und die werden nach einem biblischen Spruch zur Schlachtbank geführt. Dass Mediziner den Begriff aber auf eine große Menschenmenge in der Corona-Pandemie anführen – sonderbar.
Herdenimmunität kann Einschränkungen im Alltag verhindern
Mit einer Herdenimmunität verbinden Epidemiologen jedoch die Hoffnung, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen. Sind viele Menschen in allen Gruppen der Gesellschaft immun gegen Corona, hat das Virus schlechte Karten. Ein krasser „Lockdown“ könnte dann ausbleiben, so die Hoffnung der Mediziner.
Der Haken: Um eine weitere Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu verhindern, müssten nach bisheriger Experten-Meinung rund 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sein. Entweder durch eine überstandene Infektion mit Corona oder durch eine Impfung, die es womöglich irgendwann geben wird.
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Herdenimmunität wohl weitaus geringer, als gehofft
Mathematiker haben nun neue Berechnungen zur Herdenimmunität aufgestellt. Demnach könnte die Zahl weit geringer sein, als es viele Forscher erwartet haben. Seine Erkenntnisse hat das Forscherteam um Tom Britton und Frank Ball von der Universität Nottingham im renommierten Fachmagazin „Science“ veröffentlicht.
Die Forscher schreiben, mindestens 43 Prozent der Bevölkerung müssten Antikörper gegen SARS-CoV-2 aufweisen, damit die Herdenimmunität durchschlägt. Ball räumt jedoch ein, dass die Berechnung vor allem illustriere, dass die Herdenimmunität keine fixe Größe sei.
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Bisher noch keine 43 Prozent immun
Auch der wissenschaftliche Leiter von „Science“, Holden Thorp, zeigt sich kritisch zu den veröffentlichten Zahlen. Er schreibt, dass bislang noch nirgendwo eine Herdenimmunität von 43 Prozent erreicht worden sei. In der schwedischen Hauptstadt Stockholm könnten sich nach Schätzungen bis zum 1. Mai 2020 rund 26 Prozent der Bevölkerung mit Corona infiziert haben. In Madrid geht man von 10 Prozent aus. Zu dem Zeitpunkt, als Thorp seine Kritik äußerte, kannte er die Zahlen aus Ischgl noch nicht.
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Ischgl-Studie – 42,4 Prozent sind Antikörper-positiv
Ganz knapp an den 43 Prozent scheint der ursprüngliche Corona-Hotspot Ischgl (Österreich) zu sein. Rund 1500 Einwohnerinnen und Einwohner der Tiroler Gemeinde (etwa 79 Prozent) wurde im Rahmen einer Studie der Medizinischen Universität Innsbruck Ende April 2020 auf das Corona-Virus bzw. auf SARS-CoV-2-Antikörper getestet. Nun liegen erste Ergebnisse der bislang unveröffentlichten Studie vor: 42,4 Prozent der TeilnehmerInnen haben Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet.
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Darüber hinaus fanden die Wissenschaftler heraus, dass etwa 85 Prozent derjenigen, die eine Infektion durchgemacht haben, nichts davon gewusst haben. Die Zahl der nicht dokumentierten Fälle, die aufgrund eines asymptomatischen oder milden Infektionsverlaufs nicht getestet wurden, lässt sich ausschließlich mit Antikörpertests nachweisen, erklärt Studienleiterin Dorothee von Laer. Im Hinblick auf den erhobenen Nachweis von Antikörpern ist die Studie jedoch nicht repräsentativ für die österreichische Gesamtbevölkerung. Auch die Frage der Immunität bzw. wie lange TrägerInnen von SARS-CoV-2-Antikörpern vor einer Infektion geschützt sind, ist mit dieser Studie nicht aufgeklärt.
Die Forschungen rund um Corona laufen auf Hochtouren. Letztendlich bleibt es jedoch schwierig abzuschätzen, wie viele Menschen mittlerweile wirklich gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 immun sind. Epidemiologen vermuten eine große Dunkelziffer in der Bevölkerung, worüber FITBOOK bereits berichtet hat.