25. Februar 2022, 10:47 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Die einen halten es für Hokuspokus oder ekeln sich schon bei dem Gedanken, andere sind komplett überzeugt und schwören drauf: Eigenurin-Therapie. FITBOOK sprach mit der Autorin und Expertin Carmen Thomas über die möglichen Anwendungen und gesundheitlichen Vorteile von Urin.
Jeder Mensch produziert es im Körper und hinterlässt es täglich in der Toilette – Urin. Doch genau hier liegt der Denkfehler, sagen japanische Mediziner, wie Carmen Thomas im FITBOOK-Interview berichtet. Von indischen Ärzten lernte sie: Auf der Welt sei alles in Kreisläufen angelegt. Und daher sei auch der Urin kein Abfall, sondern ein Kreislaufprodukt, eine Zwischenform des Blutes. Die Journalistin und Dozentin schrieb mehrere Bücher über das Thema Urin. Das wohl bekannteste trägt den Namen „Ein ganz besonderer Saft – Urin“ und erschien in der Erstauflage 1999. Wir haben mit der Expertin gesprochen und uns genau erklären lassen, was es mit der Eigenurin-Therapie (auch Eigenharn-Therapie) auf sich hat.
Übersicht
Was macht den Urin zu einem besonderen Saft?
Um dies herauszufinden, tauchte Carmen Thomas tief in die Recherche ein. Sie reiste nach Indien, wo die Eigenurin-Behandlung eine etablierte Therapie ist, besuchte dort Urin-Kliniken und nahm an zwei Weltkongressen für Urintherapie teil. Damit begann ein mehr als 35-jähriges Abenteuer, bei dem sie sich viel Wissenswertes zum Thema Urin angeeignet hat und seither darüber berichtet.
„In der Natur existiert kein Abfall. In der Natur ist alles in Kreisläufen angelegt. So fallen z. B. die Blätter von den Bäumen, sind damit aber kein Müll. Sie zerfallen zu Mulch und sind dann wieder der Nährstoff für genau diesen Baum.“ Deshalb sei die Idee, dass der Urin ein Abfall sei, falsch gedacht. Er sei vielmehr eine Zwischenform der Blutzirkulation, wie Carmen Thomas von japanischen Medizinern erfuhr. Und der Urin sei ein ganz besonderer Saft, da er beim Ausscheiden alle Krankheitserreger enthalte, die gerade im eigenen Körper aktiv seien. Genauer: Er enthält die abgestorbenen Erreger, die von der Stelle im Körper, in dem sie aktiv waren, in den Urin gelangt sind. Genau darin liege das große Potenzial des Urins. „Wenn man den Urin auf irgendeine Weise wieder dem Körper zuführt, dann macht man im Grunde das, was sich auch beim Impfen in der Schulmedizin zunutze gemacht wird“, zitiert Thomas fernöstliche Wissenschaftler.
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»Mit Urin das Immunsystem boostern
Und noch weitere Erkenntnisse hat Thomas aus Fernost mitgebracht: Wer sich mit dem eigenen Urin therapiert, stärkt das eigene Immunsystem. Der Körper erkennt die in dem Urin enthaltenden Erreger als Fremdkörper und kann daher sofort Antikörper bilden. „Damit wird Urin zu einer Art ‚Impfstoff‘, der sich dadurch von Impfungen aus der Schulmedizin unterscheidet, dass er auf den eigenen Körper quasi maßgeschnitten ist. Denn er enthält Informationen über genau die Erreger, die wirklich gerade im Körper sind.“
Das Besondere am Urin und zugleich Herausfordernde für die Wissenschaft: Jede einzelne Blasenfüllung ist einzigartig. Das heißt, die genaue Zusammensetzung des Urins, der laut Thomas aus ca. 3000 Inhaltsstoffen besteht, unterscheidet sich nicht nur von Mensch zu Mensch. Vielmehr sei auch jede eigene Blasenfüllung bei sich selbst bei jedem Gang zur Toilette eine Art neue „Welturaufführung“.
»Die Hausapotheke in der Blase
Die Urin-Therapie kennt verschiedene Arten, das Immunsystem zu boostern, erfuhr die Autorin von Expertinnen und Experten: „Durch Augen, Nase, Haut, durch Trinken oder Gurgeln oder mit einem Klistier in den After spritzen.“ Dabei sei eine Eigenurin-Therapie nicht nur als Stärkung des Immunsystems nutzbar. Laut Thomas‘ Erfahrungsberichten aus der ganzen Welt lassen sich diverse große und kleine Beschwerden durch äußere oder innere Anwendung mit Urin behandeln: „Man hat in seiner Blase eine überragende Hausapotheke.“
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Bei welchen Beschwerden soll eine Eigenurin-Therapie helfen?
Mit dem eigenen Urin scheint man eine kleine Wunderwaffe jederzeit verfügbar zu haben. Diese kann vielseitig und zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Carmen Thomas hat über die Jahre unzählige Geschichten gesammelt und verrät, wobei sich Menschen alles mit Urin geholfen haben:
- Halsschmerzen und -beschwerden (gurgeln)
- Blasenentzündung (trinken)
- gegen schmerzende Wunden und Blutungen, z. B. durch Schneiden, Verbrennen oder hartes Anstoßen (von außen anwenden, z. B. auf die Stelle träufeln oder einen Wattebausch oder Verband tränken)
- Hautkrankheiten (von außen anwenden, z. B. einreiben)
- Pollenallergie (in die Augen und/oder Nase träufeln)
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Tipps für Urin-Anwendungen
„Sobald sich Halsschmerzen mit einem Kribbeln ankündigen, sofort mit Urin gurgeln, dann geht das garantiert weg“, schrieben Thomas viele tausend Anwender und Anwenderinnen. Wer an einer Blasenentzündung leidet, so ein weiterer Tipp, kann den eigenen Urin trinken, um die Beschwerden schneller – manchmal innerhalb von Stunden – loszuwerden.
In anderen Fällen ist Geduld gefragt. So berichtet Carmen Thomas im Gespräch mit FITBOOK von einem schweren Fall von Neurodermitis. Der Betroffene habe viele Jahre keine Hilfe gefunden, bis er die Eigenurin-Therapie ausprobiert habe. Nach und nach hätten sich Verbesserungen gezeigt, nach ungefähr einem Jahr war er frei von Beschwerden. Er wusste: „Bei chronischen Erkrankungen wie Hauterkrankungen dauert es länger. Da heißt es: dranbleiben.“ Wenn es aber einmal weg ist, kommt es nicht wieder – das haben viele Eigenurin-Erfahrene Thomas bei ihren Recherchen berichtet.
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Und schließlich weiß die Autorin noch von einer Anwendung zu berichten, die gerade mit Beginne des Frühlings vielen Menschen Erleichterung verschaffen könnte. „Urin hilft auch bei Pollenallergie. Einfach trauen, zwei Finger in den Strahl halten und sich ein paar Tropfen jeden Morgen in die Augen träufeln oder in die Nase. Wahlweise auch gurgeln“, so der praktische Tipp von Urin-Therapie-Anwendenden.
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„Die indische Anwendung“
Urin als Heilmittel hat in Indien lange Tradition. Dort hat sich Carmen Thomas bei ihrer Recherche deshalb ganz genau umgesehen. Unter anderem besuchte sie auch Urin-Kliniken. „Dorthin kommen schwerkranke Menschen, oft auch Austherapierte aus der Schulmedizin. Sie werden dort nur mit ihrem Urin behandelt. Er wird getrunken, eingerieben und auf viele Weisen verwendet. Bei schweren und chronischen Hauterkrankungen wird äußerlich mit verseiftem Urin gearbeitet.“ Letzteres bezeichnet Thomas als die „indische Anwendung“. Wenn Urin sieben Tage gut verschlossen aufbewahrt wird, verseift er und kann dann nicht nur zum Waschen, sondern auch medizinisch angewendet werden. Zwar nur äußerlich, aber gerade bei Hautbeschwerden aller Art umso effektiver.
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Reaktanz – warum wir uns vor Urin ekeln
Während Urin-Therapien in Indien also nichts Sonderbares sind, findet sie in westlichen Ländern zwar hin und wieder große Aufmerksamkeit, aber kaum Anwendung. Viele Menschen haben sogar noch nie etwas davon gehört, wie gesundheitsförderlich die Nutzung des eigenen Urins Berichten zufolge sein soll. Auch Carmen Thomas stößt bei dem Thema immer wieder auf Unglauben und Ekel – und kann das durchaus verstehen. Beides habe sie zu Beginn ihrer Recherchen durchaus selbst verspürt, erklärt sie ganz offen. Woran liegt das?
Eine Erklärung: das Phänomen der Reaktanz, unter der man in der Psychologie eine Abwehrreaktion versteht. Thomas erläutert. „Der Ekel und die Abwehr vor dem eigenen Urin ist einerseits Erziehung, aber auch eine Folge der Reaktanz, des unbewussten Blindwiderstandes. Immer dann, wenn Menschen etwas Irritierendem oder Unbekanntem begegnen, funktioniert Reaktanz wie eine emotionale Gänsehaut. Kennzeichen: ein dicker Hals oder harter Bauch als Abwehr- und Warnfunktion des Körpers.“ Denn Ekel, Vorsicht und sogar Abwehr seien grundsätzlich ja Schutzfunktionen. Das kann allerdings manchmal auch hinderlich sein. „Wer lernen möchte, die Reaktanz zu verändern und zu verkleinern, kann neugierig werden und Dinge zunächst einmal zulassen, statt direkt dichtzumachen. Und dann Informationen erst mal verwerten, statt sie sofort zu bewerten“, so Thomas.
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Kritische Einordnung – was sagt die Studienlage?
Studien oder wissenschaftliche Untersuchungen zu der genauen Wirksamkeit von Urin bei einzelnen Beschwerden lassen sich nicht finden. Zwar wird die Urin- bzw. Eigenurin-Therapie beschrieben, doch wird auch dabei auf das Fehlen klinischer Studien hingewiesen.1 Die Erkenntnisse rund um die Behandlung mit Urin beruhen zumeist auf Sammlungen von Fallbeispielen. So ist es auch bei den Erkenntnissen von Autorin Carmen Thomas. Sie vermutet, dass die Einzigartigkeit von Urin sowie die darin enthaltenden ca. 3000 Inhaltsstoffe die Durchführung wissenschaftlicher Studien erschwerten: „Die Wissenschaft beruht auf Wiederholung, was im Falle von Urin, der ständig anders beschaffen ist, kaum möglich ist.“
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Quelle
- 1. Loeffler J.M. (2010). The Golden Fountain – Is urine the miracle drug no one told you about? The Pan African Medical Journal.