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Diabetes insipidus renalis

Marc (39) über seine seltene Krankheit: „Als ob ich ein Leck hätte“

Diabetes insibitus
Marc Wübbenhorst (39) ist einer von sehr wenigen Menschen mit nephrogener Diabetes insipidus. Er hat ständig Durst und muss dauernd auf die Toilette. Foto: privat
Anna Echtermeyer
Redakteurin

23. Juli 2021, 11:23 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten

Marc Wübbenhorst redet nicht um den heißen Brei herum. Auch nicht bei Themen, die anderen Menschen unangenehm sind. Die Nieren des 39-Jährigen sind unfähig, Urin zu konzentrieren. Deshalb muss er enorm viel Wasser trinken – und auch wieder loswerden. Wie lebt man damit?

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Wenn Nierengesunde in die Wüste gehen, nimmt das Blutvolumen ab und die Niere erzeugt konzentrierten Urin. Darin befindet sich kein Wasser und kein Natrium, dafür ganz viele Gifte. Wenn Marc Wübbenhorst in die Wüste ginge, würde er das überlebenswichtige Wasser unkonzentriert auspinkeln. Seine Nieren sind aufgrund eines Gendefekts unfähig, Urin zu konzentrieren. Er hat Diabetes insipidus renalis, eine Krankheit, mit der er sich in der Wüste sofort in Lebensgefahr befände. Aber auch in Bielefeld, wo der 39-Jährige lebt, hängt alles davon ab, wann er den nächsten Schluck Wasser bekommt.

Zu Beginn unseres nachmittäglichen Gesprächs stehen zwei ausgetrunkene Flaschen Mineralwasser vor ihm auf dem Tisch, eine dritte habe er gerade angebrochen. Morgens hatte er zwei Becher Kaffee à 0,4 Liter und sich später unter den Wasserhahn gehängt, um zwei Liter Leitungswasser die Kehle hinunterzujagen. Sein Arbeitszimmer in einem Bielefelder Stadtentwicklungs-Büro befindet sich neben der Toilette und in jedem Konferenzraum steht für ihn immer eine Flasche Wasser auf dem Tisch. Das Interview wird insgesamt eine Stunde dauern. Möglich macht das ein Medikament, das Marc Wübbenhorst seit einiger Zeit nimmt – davor hätte er das Gespräch unterbrechen müssen. Über dessen Wirkung werden wir später noch sprechen.

„Als ob ich ein Leck hätte“

FITBOOK: Wenn man in eine Sache vertieft ist, kann es passieren, dass man längere Zeit vergisst, zu trinken. Wie lange halten Sie durch, bis es gefährlich wird und wie viel Wasser müssen Sie täglich trinken?
Marc Wübbenhorst: „Als ich noch 20 bis 22 Liter am Tag brauchte, konnte ich 1,5 Stunden ohne Wasser auskommen. Seit ich die HCT-Tabletten nehme, sind es zwei bis drei Stunden, wenn ich es darauf anlege. Durch die Tabletten hat sich meine Trinkmenge auf etwa acht Liter täglich reduziert. Die Tablette nehme ich morgens, mittags kommt dann meist der große Durst. Dann hänge ich mich unter den Wasserhahn und trinke in einem Zug zwei Liter. Die pinkle ich dann auch komplett wieder aus. Als ob ich ein Leck hätte.“

Diabetes insipidus renalis – die Krankheit von Marc Wübbenhorst medizinisch erklärt
Die Nieren regulieren im Körper unter anderem den Wasserhaushalt. Sie müssen dafür auch mit dem Herzen zusammenarbeiten, was über Hormonsystemen geschieht, die an Rezeptoren gekoppelt sind. Dann merkt die Niere: Ich muss mehr oder weniger Wasser ausscheiden. Das Antidiuretische Hormon (ADH, auch Vasopressin) sorgt dafür, dass die Niere das Wasser zurückholt. Bei Krankheiten wie Diabetes ist das Zusammenspiel verändert. Menschen mit Diabetes mellitus scheiden vermehrt Zucker aus (mellitus=„honigsüß“). Menschen mit Diabetes insipidus renalis hingegen, wie Marc Wübbenhorst, scheiden zu viel Wasser aus (insipitus=„geschmacklos“; renalis=„von der Niere her“). Dies liegt entweder an einem defekten Hormonsystem (ADH-Mangel) oder an einem Defekt der Niere. Bei Marc Wübbenhorst ist das Hormonsystem in Ordnung, aber die Nieren sind verändert. Sein Krankheitsbild heißt daher korrekt nephrogene (=von den Nieren ausgehende) Diabetes insipidus. Grund ist ein extrem seltener Gendefekt, den in Deutschland nur ein Mensch von 250.000 hat. Er betrifft die sogenannten Aquaporine in der Niere. Kleine Kanäle, die Wasser hin- und herlassen und bei Marc Wübbenhorst nicht richtig ausgebildet sind. Seine Nieren funktionieren nicht und sein Körper verliert alles an Wasser, was er zuführt. Als Folge muss er unheimlich viel trinken und sehr oft auf die Toilette – leider auch nachts.

Symptome, wenn er zwei Stunden nichts trinkt

FITBOOK: Welche Symptome haben Sie, wenn Sie länger als zwei bis drei Stunden nichts getrunken haben?
„Man hat das Gefühl, man müsse verdursten. Hände und Lippen werden rissig, manchmal schwellen meine Füße und Lippen an. Begleitet wird das von extremer Hitze, ich bekomme Fieber. Alles zusammen erzeugt ein Gefühl von absoluter Not. Stellen Sie sich vor, jemand drückt Ihnen eine Hand ins Gesicht und Sie bekommen keine Luft mehr. Es gab Situationen, da hatte ich noch zehn Minuten Zeit, mir selbst zu helfen. Danach wäre nichts mehr gegangen, denn das schraubt sich hoch bis zur Unzurechnungsfähigkeit. Wenn ich dann trinke, senkt sich meine Körpertemperatur innerhalb von zehn Minuten ab und es kann sein, dass ich Schüttelfrost bekomme. Wenn man in einem Zug zwei Liter Wasser trinkt, kühlt das verdünnte Blut schnell runter.“

„Das ist nur Gluckerbauch“

Der Druck auf der Blase muss enorm sein. Wie halten Sie das aus?
„Meine Blase hat zwar ein vergrößertes Fassungsvermögen, aber der Druck kann trotzdem sehr schmerzhaft sein. Genau so stelle ich mir vor, dass sich eine Schwangere fühlt. So sehe ich übrigens auch oft aus. Manchmal ist mein Bauch hängend und dick. Das hat dann überhaupt nichts mit der Ernährung zu tun. Das ist nur Gluckerbauch.“

Welches Wasser trinken Sie am liebsten?
„Ich trinke verschiedene Wässer, um Geschmacksvariationen zu haben. Kohlensäure schüttle ich manchmal raus. Aber darauf kommt es auch nicht an, wenn man eh schon aufgebläht ist. Generell bevorzuge ich lauwarmes Wasser, von kaltem Wasser kühle ich zu schnell runter.“

Trinkmenge eines gesunden Menschen: Als Faustregel gilt: 30 bis 40 Milliliter pro Kilo Körpergewicht. Bei einem Gewicht von 70 Kilogramm sollte man also mindestens 2,1 Liter Wasser am Tag trinken, sofern man nicht überdurchschnittlich viel schwitzt. Überschreitet bspw. ein Läufer eine Wasserzufuhr von vier oder fünf Liter, findet eine erhöhte Entmineralisierung statt. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit und Atembeschwerden können die Folgen sein. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Hyponatriämie, der sogenannten Wasservergiftung.

Durch die großen Wassermengen, die Sie aufnehmen, werden dem Körper viele Elektrolyte und Nährstoffe entzogen, was tun Sie dagegen?
„Mein Elektrolythaushalt ist manchmal völlig durcheinander, daher rührt auch ein großer Teil meiner permanenten Erschöpfung. Ich habe dann häufig Migräne. Gegen die hilft mit bestimmte Musik und Kaffee mit Zitrone. Überhaupt trinke ich sehr viel Kaffee, schon morgens zwei Becher à 0,4 Liter. Gerne auch mit einem Schuss Cola. Das hilft meinem Körper, mehr Wasser in den Magen zu ziehen bzw. zu behalten. Dickflüssige Getränke, wie z.B. Aloe-Vera-Saft, Bananensaft, Hafermilch oder übersättigte Lösungen haben auch diesen Effekt. Und Gummibärchen! Meine heimliche Obsession. Erhöht zwar alles den Blutzucker. Aber das ist für mich dann das kleinere Übel. Wer so eine Einschränkung hat im Leben, muss auch cheaten…“

Seit 2018 nehmen Sie Wassertabletten, sogenanntes HCT. Was hat sich seitdem verändert?
„Die Erschöpfung hat sich abgebaut. Ich habe 20 Kilogramm abgenommen. Meine Bewegungen wurden schneller, mein Blutdruck hat sich erhöht und ich bin manchmal sehr aufgeputscht. Manchmal mache ich so seltsame Dinge, wie eine IBAN auswendig zu lernen oder ich schaue den Blättern beim Fallen zu. Meine Merkfähigkeit hat sich verbessert. Manchmal habe ich Wassereinlagerungen, die am anderen Tag weg sind. Deshalb habe ich alle Klamotten in M und L.“

Warum helfen Marc Wübbenhorst ausgerechnet Wassertabletten (HCT) und wie wirken sie im Körper?
Die bei Marc Wübbenhorst defekten Nieren-Aquaporine können mit Hydrochlorothiazid-Tabletten (HCT), bekannt als Wassertabletten, behandelt werden. Ihre Wirkung erklärt Prof. Dr. Christiane Erley, Fachärztin für Nephrologie und Chefärztin am St. Joseph Krankenhaus Berlin: „Normalerweise scheiden die Nieren Wasser und Natrium zusammen aus. Menschen mit nephrogener Diabetes insipidus scheiden zu viel Wasser aus. Das HCT gleicht das etwas aus und fügt dem Urin Natrium zu, es steigert also die Natriumausscheidung. Gleichzeitig wird das Blutvolumen verringert. Der Urin ist dann nicht mehr so wasserklar, sondern etwas konzentrierter. Eine aufputschende Wirkung, wie vom Patienten beschrieben, ist allenfalls über die abnehmende Urinausscheidung und damit auch einen besseren Schlaf erklärbar.“

„Am besten geht es mir, wenn ich Haferflocken und Gummibärchen esse“

Wie ernähren Sie sich, was bekommt Ihnen besonders gut?
„Am besten geht es mir tatsächlich, wenn ich mich ausschließlich von Haferflocken und Gummibärchen ernähre (lacht). Bananen sind auch gut – wegen des hohen Magnesiumgehalts. Das hilft mir gegen Muskelkrämpfe. Wegen des HCT muss ich darauf achten, möglichst wenig Salz zu mir zu nehmen. Ich muss sagen, ich habe den Schwerpunkt nicht auf Essen. Nahrungsaufnahme ist für mich funktional. Wenn man den Bauch voller Wasser hat, ist der Hunger auch nicht so da. Dazu kommen in meinem Fall zahlreiche Allergien. Kern- und Steinobst gehen nicht, Tomaten sind wegen Histamin tabu und ich habe eine Laktoseintoleranz.“

„Inzwischen kann ich drei bis vier Stunden durchschlafen“

Wie wirkt sich die Krankheit auf Ihren Schlaf aus?
„Vor dem HCT konnte ich nachts maximal 1,5 Stunden am Stück schlafen. Ich glaube aber, dass ich durch das permanente Müde-Sein eine gewisse Resilienz entwickelt habe. Wenn man es gewohnt ist, permanent stark belastet zu sein, hält man auch mehr aus. Weil man es muss. So sehe ich es. Ich kann meinen Zustand ja nicht ändern, es geht nicht vorüber wie z. B. eine Krankheit. Ich muss es durch den Alltag schaffen. Inzwischen kann ich übrigens drei bis vier Stunden durchschlafen. Eine ganz neue Erfahrung, ausgeschlafen zu sein!“

Das klingt ehrlich gesagt nicht nach Ausschlafen, sondern Dauererschöpfung. Aber Sie scheinen sich darüber zu freuen. Erfordert Ihre Krankheit eine gewisse Radikalität im Alltag?
„Ich muss mich darauf fokussieren, meine Körperfunktionen zu stabilisieren. Ein Beispiel: Ich kann mich nicht damit beschäftigen, ob der Chicorée auf dem Wochenmarkt heute reduziert ist. Es interessiert mich nicht. Mein ganzer Alltag dreht sich um Trinken. Eine Krankheit ist vorübergehend. Das, was ich habe, geht nicht weg. Da muss man unnützen Gedankenballast abwerfen können.“

Wie gelingt Ihnen das?
„Ich meditiere jeden Tag zu hochfrequenten Geräuschen. Das hilft mir, mich zu beruhigen. Im Büro, ich arbeite in der Stadtentwicklung, klinke ich mich immer mal wieder für 20 Minuten aus und bin dann völlig weg. Danach fühle ich mich so erholt wie andere nach einer Stunde Pause.“

Hintergrund: Zur Lebenserwartung bei Diabetes insipidus sagt Prof. Dr. Erley: „Die Patienten mit Diabetes inspidus renalis, die ich kenne, haben eine normale Lebenserwartung, wenn sie es schaffen, zu trinken. Wenn sie es nicht schaffen, besteht höhere Gefahr für ein Nierenversagen.“

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„Mannschaftssport ist für mich nicht aushaltbar“

Können Sie Sport machen?
„Bei hoher körperlicher Belastung kann ich nicht kooperativ mit anderen zusammenarbeiten. Für mich ist es nicht aushaltbar, beim Mannschaftssport, wie z. B. Fußball, getrieben zu werden. Das ist wie bei Pferden, die scheu werden, wenn sie in die Ecke getrieben werden. Ich überhitze, nach zehn Minuten ist mein Kopf knallrot. Gleichzeitig schwitze ich nicht richtig, weil mein Körper nicht herunterkühlt. Es fühlt sich an wie ein Berserker-Modus… Dazu kommt der riesige Bauch mit dem ganzen Wasser drin, das gluckert beim Laufen.

Individualsportarten funktionieren aber ganz gut, aber auch da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Mein Karate-Lehrer früher hat mir nicht geglaubt, als ich zur Toilette musste bzw. warf mir mangelnde Willenskraft vor. Zu Fuß gehen, Wandern, ist mein Ding. Als Junge bin ich einmal aus Langeweile zu Fuß 30 Kilometer in die nächste Stadt gelaufen. 2019 bin ich beim Mammutmarsch 57 Kilometer gegangen. Und vor vier Jahren habe ich angefangen, zu reiten. Ich habe mittlerweile eine Reitbeteiligung. Reitsport ist wunderbar und funktioniert für mich gut, gerade im Winter, wenn es draußen friert. Die Leute fragen mich dann immer, warum ich nur ein Jackett trage.“

Welche Jahreszeit ist für Sie die Schlimmste?
„November. Alle Leute frieren, die Räume sind trocken und überheizt. Dann bin ich im T-Shirt unterwegs.“

Kennen Sie auch Menschen mit einer seltenen Erkrankung, denen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird? Oder kämpfen Sie selbst mit einer solchen und möchten anderen Mut machen? Dann schreiben Sie uns gerne an info@fitbook.de.

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