13. September 2023, 20:03 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Viele Menschen vertrauen der Kalorienangabe auf Lebensmittelverpackungen als Orientierung blind, um ihr Gewicht zu halten oder abzunehmen. Das Problem: Kalorienzählen ist kein Indikator dafür, was unser Körper wirklich braucht – oder an Energie auf Zellebene bekommt.
Viele werden es kennen: Man greift im Supermarkt zur Verpackung und checkt mal kurz, mit wie vielen Kilokalorien 100 Gramm des anvisierten Lebensmittels zu Buche schlagen würden. Sind es zum Beispiel Nüsse – absolute Schwergewichte, was die Kalorien angeht – legen manche das Produkt schnell wieder zurück ins Regal und ziehen weiter auf der Suche nach Nahrung, die doch möglichst wenige Kalorien haben sollte. Dabei kommt es nicht alleine darauf an – 100 Kalorien sind nicht gleich 100 Kalorien. Experten erklären, warum.
Übersicht
Kaloriendefizit zum Abnehmen
Kalorien sind natürlich auch jenen ein Begriff, die abnehmen wollen. Die bekannte Faustregel lautet: Wer weniger Kalorien zu sich nimmt, als er verbrennt (= Kaloriendefizit), nimmt ab. Nur klappt das in vielen Fällen einfach nicht. Haben sich die Diätwilligen vielleicht verzählt? Immer mehr Wissenschaftler sind sich sicher: Nein! Denn das Problem liegt ganz woanders. Das Problem ist die Kalorie an sich. Der „Economist“ titelte dazu: Death of the calorie.
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Aussagekraft der Kalorie wird immer mehr infrage gestellt
Der Knackpunkt: Eine Kalorie ist nicht gleich eine Kalorie. Und 100 Kilokalorien durch Nüsse sind in jedem Fall gesünder als 100 Kilokalorien durch verarbeitete Lebensmittel. Das soll nicht heißen, dass die Kalorie als wissenschaftliche Maßeinheit – Wärmemenge, die erforderlich ist, um 1 Gramm Wasser um 1 Grad Celsius zu erwärmen – ihre Gültigkeit verloren hat. Nur wird ihre Aussagekraft aus ernährungswissenschaftlicher Sicht immer mehr infrage gestellt. Das fängt schon damit an, dass Lebensmittel mit derselben Kalorienangabe unterschiedlich vom Körper verwertet werden: einerseits von Person A anders als von Person B, andererseits selbst bei Person A unterschiedlich, abhängig von der jeweiligen Tageszeit.
Vereinfacht ausgedrückt: Entscheidend ist nicht der Brennwert, sondern was drinsteckt, wie es da reingekommen ist und wie es vom Körper aufgenommen wird. Und das wird durch eine allgemeine Kalorienangabe auf der Verpackung leider nicht berücksichtigt.
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Wenig Zucker schlägt wenig Kalorien
Was auf jeden Fall möglichst wenig drinstecken sollte, ist Zucker – unabhängig von jedem Kaloriengehalt. Was uns zu einer nächsten (Un-)Gleichung bringt: Kohlenhydrate sind nicht gleich Kohlenhydrate. So erklärte Prof. Dr. med. Berthold Koletzko dem „Deutschen Ärzteblatt“: „Zucker hat eine andere Wirkung auf die Fettsynthese als beispielsweise Stärke. Demzufolge sind Kalorien nicht gleich Kalorien.“ Zur Erklärung: Bei einer US-Studie haben 41 Kinder, die für gewöhnlich viel Zucker zu sich nehmen, über neun Tage Essen bekommen, das so viel Kalorien hatte wie ihre übliche Ernährung. Mit dem entscheidenden Unterschied: Ihr Essen bestand jetzt vor allem aus Stärke statt aus Fruktose (Fruchtzucker). Nach nur neun Tagen kam es „zu einer deutlichen Reduktion des Fettgehaltes in der Leber und der viszeralen Fettmasse (Bauchfett, Anm. d. Red.)“
Und noch ein Beispiel: Bei einer Tierstudie kam heraus, dass Ratten mit einer fettarmen, aber zuckerreichen Diät stärker zunahmen als Ratten einer Kontrollgruppe – obwohl diesen sogar mehr Kalorien zugeführt worden waren. „Das zeigt, dass Zucker und nicht die Kalorien der entscheidende Faktor für das Übergewicht der Tiere war“, fasste Mitautor Dr. Krzysztof Czaja von der University of Georgia die Ergebnisse für das „Deutsche Ärzteblatt“ zusammen.
Das Tückische an Fruktose: Sie wird – im Unterschied zu Glukose – in der Leber zu Fett abgebaut. Das begünstigt wiederum Übergewicht und kann zu einer Fettleber führen. „Wenn bei zu hoher Fruktosezufuhr auf einmal viel Fruktose die Leber anflutet, ist die Umwandlungskapazität überfordert und es wird Fett daraus gemacht, das sich in der Leber ablagert oder ans Blut abgegeben wird. So werden auch andere Gewebe mit diesem Fett angereichert“, erklärte Ernährungswissenschaftler Prof. Nicolai Worm FITBOOK die Nachteile von Fruchtzucker. Den ganzen Artikel können Sie hier nachlesen.
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Das sagen die Experten zum Kalorienzählen
FITBOOK wollte von einem Experten wissen, was er von Kalorien(zählen) hält – und bekam eine sehr unmissverständliche Antwort. Dr. med. Matthias Riedl – Internist und Ernährungsmediziner – sagt: „Kalorienzählerei ist ein jahrzehntelanger Irrtum.“ Stattdessen komme es darauf an, dass das Säugetier in uns satt wird. Und das gelinge nicht durch kalorienarmes Essen, sondern durch „die richtige Mischung der Magenfüllung durch Gemüse und die richtige Eiweißdosierung.“
Und weiter: „Kalorien zu zählen, führt zu der irrigen Annahme, dass die Kalorien die alleinige Ursache von Übergewicht sind. Falsch! Es gibt Nahrungsmittel, die schlank machen wie Gemüse, Nüsse oder Pilze. Ganz im Gegensatz zu Fruktose. Wir müssen weg von der Kalorienzählerei und hin zu einer gezielten Auswahl von Schlankmachern.“
Dr. Riedl weist darauf hin, dass notorische Nussesser trotz größerer Kalorienaufnahme in der Regel sogar weniger wiegen. Mit seiner Nussanspielung meint der Arzt die berühmt gewordene PREDIMED-Studie, die (trotz einiger statistischer Ungereimtheiten) zeigen konnte, dass eine mediterrane Diät Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen kann. Bei Menschen, die sich traditionell mediterran ernähren, stehen fettige (und damit oft kalorienreiche) Lebensmittel vermehrt auf dem Speiseplan. „Die PREDIMED-Studie hat es bewiesen: Viel gesundes Fett bis ein Liter pro Woche pro Familie oder 210 Gramm Nüsse pro Woche führen zu weniger Gewicht, Krebs- und Infarktrisiko. Damit gilt die Kalorienzählerei endgültig als beerdigt.“
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Unterschiedliche Nährstoffe – unterschiedliche Stoffwechselprozesse
Auch der Ernährungswissenschaftler Prof. Nicolai Worm betont, dass Kalorien nicht gleich Kalorien sind, schließlich würden unterschiedliche Nährstoffe hormonell unterschiedlich im Stoffwechsel gesteuert, „auch der Verarbeitungsgrad und die Resorptionsgeschwindigkeit haben unterschiedliche hormonelle Reaktionen zur Folge.“ Er verweist dabei auf eine wissenschaftliche Studie: „Die gleiche Zahl an Kalorien aus raffinierter Nahrung versus weitgehend naturbelassener Nahrung hat unterschiedliche Reaktionen zur Folge. Ersteres erhöht das Risiko für Übergewicht!“ Raffinierte, schnell resorbierbare Kalorien unterscheiden sich von langsam resorbierbaren Kalorien vor allem in der Ausschüttung von bestimmten Hormonen (u. a. GIP, GLP-1, PYY), die unterschiedlich in Hunger und Sättigung, Fettspeicherung oder Fettoxidation eingreifen.
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Fazit: Kalorien sind ein Anhaltspunkt, aber nicht immer entscheidend
Natürlich sind Kalorien ein grober Anhaltspunkt darüber, wie viel Energie ich meinem Körper zuführe. Aber 100 Kilokalorien aus Fruchtzucker sind eben nicht das Gleiche wie 100 Kilokalorien aus beispielsweise gesunden Fetten (z. B. Lachs), weil Fruktose im Körper ganz andere Stoffwechselprozesse lostritt, was unter Umständen zu Erkrankungen führen kann