12. Dezember 2019, 11:06 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Wissenschaftler der Charité und des Max-Planck-Instituts haben untersucht, wie sich soziale Isolation gepaart mit extremen Umweltbedingungen auf unser Gehirn auswirken. Ihr Ergebnis: Es schrumpft (ein bisschen). Mit messbaren Auswirkungen bei Alltagsaufgaben.
Wissenschaftler aus Deutschland haben jetzt bei einer Studie (erschienen im „New England Journal of Medicine“) beobachtet, was sie für den Menschen schon lange vermutet haben und für Mäuse schon nachweisen konnten: Das Gehirn braucht seine regelmäßige Dosis an externen Reizen, um einwandfrei zu funktionieren – und nicht zu schrumpfen.
Das haben die Forscher untersucht
Für neun Forscher stand eine Expedition in der Antarktis an. In deren Rahmen sollten sie insgesamt 14 Monate auf einer Forschungsstation – der Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts – verbringen. Dort herrschen extreme Wetterbedingungen (und im Winter fast den ganzen Tag Dunkelheit), zudem befinden sich die Polarforscher in einem Zustand sozialer Isolation. Denn: Nicht nur bietet das Leben auf der Station wenig Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre, auch Kontakte zur Außenwelt sind dort auf ein Minimum reduziert, schreibt die Charité in einer Pressemitteilung.
Genau das wollten sich die Hirnforscher aus Berlin zunutze machen. „Dieses Szenario bietet uns die Gelegenheit zu untersuchen, wie sich das Leben unter extremen Bedingungen auf das menschliche Gehirn auswirkt“, sagt Dr. Alexander Stahn vom Institut für Physiologie der Charité, Leiter der Studie und Assistant Professor an der Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania.
An der Studie nahmen fünf Männer und vier Frauen teil. Von den 14 Monaten waren sie neun Monate auf sich selbst gestellt. Vor, während und nach der Expedition musste die Forscher – die nun auch Probanden waren – verschiedene computergestützte Kognitionstests machen. Dabei ging es etwa um Gedächtnisleistung, die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit sowie das räumliche Denken. Außerdem wurde ihnen in regelmäßigen Abständen Blut abgenommen, um die Konzentration des sogenannten Wachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotrophic factor) zu ermitteln. Beim BDNF handelt es sich um ein Protein, das das Wachstum von Nervenzellen und Synapsen im Gehirn anregt. Darüber hinaus schickten die Wissenschaftler die Polarforscher in die „Röhre“, um mittels MRT-Aufnahmen mögliche Strukturänderungen im Gehirn festzustellen. Um die Ergebnisse in Relation setzen zu können, absolvierte eine neunköpfige Kontrollgruppe, die in Deutschland blieb, dieselben Tests.
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Das haben die Forscher herausgefunden
Bei den Untersuchungen kam heraus, dass ein Teil des Hippocampus (der Gyrus dentatus) bei den Polarforschern – verglichen mit der Kontrollgruppe – geschrumpft ist. Dieses Hirnareal dient unter anderem der Festigung von Gedächtnisinhalten, außerdem wird ihm eine Schlüsselrolle beim räumlichen Denken nachgesagt. Gestützt wurden die Beobachtungen durch die Blutergebnisse: Ebenfalls der Wachstumsfaktor BDNF hatte sich verringert – und das schon nach drei Monaten Aufenthalt in der Antarktis (was bis zu anderthalb Monaten nach Expeditionsende anhielt).
Was die Kognitionstests betrifft, zeigten sich Einschränkungen bei der selektiven Aufmerksamkeit und auch beim räumlichen Denken. Denn: Während sich die Kontrollgruppe mit fast jeder Wiederholung in den Tests verbessern konnte, blieb dieser Lerneffekt bei den Polarforschern auf der Strecke – umso ausgeprägter, je mehr der Gyrus dentatus in der Zwischenzeit geschrumpft war.
Trotzdem sollte man die Aussagekraft der Studie nicht überbewerten, betonen die Autoren. „Angesichts der geringen Anzahl an Probandinnen und Probanden sind die Ergebnisse unserer Studie vorsichtig zu interpretieren. Sie geben aber – wie auch erste Erkenntnisse bei Mäusen – einen wichtigen Hinweis darauf, dass sich extreme Umweltbedingungen negativ auf das Gehirn, insbesondere auf die Bildung neuer Nervenzellen im Gyrus dentatus des Hippocampus, auswirken können“, erklärt Dr. Stahn. In einem nächsten Schritt planen die Forscher herauszufinden, inwieweit man mit Sport den zerebralen Veränderungen bei Isolation vorbeugen kann.