1. Dezember 2021, 12:32 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
In Deutschland spitzt sich die Corona-Lage zu. Auf vollen Intensivstationen müssen Ärzte entscheiden, wer ein Bett bekommt und wer nicht. Das stellt sie vor eine schwierige ethische und moralische Frage. Bei diesem Dilemma hilft die sogenannte Triage. FITBOOK erklärt, was eine Triage ist und warum Corona-Patienten nicht bevorzugt werden.
Deutschland erlebt gerade die vierte Corona-Welle. In einigen Regionen hat die Anzahl der Patienten auf Intensivstationen das Limit erreicht. Geplante Operationen müssen in Krankenhäusern verschoben werden, weil freie Betten fehlen. Das stellt Ärzte vor schwierige Fragen: Welcher Patient darf auf der Intensivstation behandelt werden und welcher nicht? Oder: Wer bekommt das letzte Beatmungsgerät, wenn mehrere Personen es gleichzeitig benötigen? Genau bei diesem Entscheidungsproblem hilft die Triage. FITBOOK beantwortet Fragen rund um das komplexe Thema, bei dem über Leben und Tod entschieden wird.
Übersicht
- Was genau bezeichnet die Triage?
- Wann kommt es zu einer Triage?
- Wer entscheidet über die Priorisierung?
- Welche Faktoren spielen eine Rolle?
- Können sich Angehörige informieren, welche Priorisierung vorgenommen wurde?
- Wer haftet in Triage-Situationen im Streitfall?
- Haben Corona-Patienten Priorität?
- Die ethische Frage der Triage
- Quellen
Was genau bezeichnet die Triage?
Der Begriff Triage kommt aus dem Französischen und bedeutet „Auswahl“, „Sichtung“ sowie „Sortierung“. In der Medizin beschreibt der Begriff die Priorisierung von Patienten nach dem Schweregrad ihrer Erkrankung beziehungsweise Verletzung. Anhand dieser Richtlinie wird in Notaufnahmen entschieden, wer zuerst behandelt wird und wer warten muss.
Geprägt wurde das Auswahlverfahren zunächst beim französischen Militär während der Feldzüge zwischen den Jahren 1792 und 1815. Dabei war der Arzt Dominique Jean Larrey besonders erfolgreich bei der Auswahl seiner Patienten. Die von ihm bevorzugt operierten Patienten wiesen eine deutlich höhere Überlebensquote auf als die von anderen Ärzten ausgewählten Personen. Vor allem im Krieg ist es wichtig, bei einer nicht zu bewältigenden Anzahl an Verwundeten jene Patienten zu behandeln, die die besten Überlebenschancen haben. Zudem geht es darum, die Truppe schnellstmöglich wieder fit für den Einsatz zu machen.
Wann kommt es zu einer Triage?
Heutzutage geht es in der Notfall- und Katastrophenmedizin darum, in Situationen begrenzter Ressourcen mithilfe der Triage zu entscheiden, welcher Patient die medizinische Hilfe am nötigsten hat und vorrangig behandelt wird. Konkret heißt das: Wenn im Krankenhaus nur noch ein Intensivbett frei ist, aber zwei Patienten es gleichzeitig benötigen, müssen objektive Auswahlkriterien herangezogen werden. Genau diese Kriterien müssen für den Fall einer Triage definiert sein.
Zu einer Triage kommt es zum Beispiel bei großen Katastrophen, wenn viele Menschen verletzt werden und alle auf einmal behandelt werden müssen. Aber auch die Corona-Pandemie bringt die Intensivstationen in Sachen Kapazität an ihre Grenzen. Ärzte müssen dann schnell entscheiden, wer die Behandlung am nötigsten hat.
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Wer entscheidet über die Priorisierung?
Im Fall eines Großunglücks, wie zum Beispiel eines Busunfalls, findet eine sogenannte Bergungssichtung oder Pre-Triage statt. Sie wird von den eintreffenden Helfern am Unglücksort durchgeführt. Der sogenannte Sichter ist oft ein erfahrender Notarzt, der in weniger als einer Minute pro Patient entscheiden muss, wer als Erstes gerettet wird und wer warten muss. Im Krankenhaus geschieht diese Priorisierung meist in der Notaufnahme und wird von den zuständigen Ärzten vorgenommen.
Wenn möglich, soll die Priorisierung nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen. Im Idealfall sollten zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärzte, Primär- und Sekundärbehandler beteiligter Fachgebiete und möglichst ein erfahrener Vertreter der Pflegekräfte einbezogen werden.
Welche Faktoren spielen eine Rolle?
Die Triage richtet sich in Deutschland nach einer Leitlinie, die von acht medizinischen Fachgesellschaften entwickelt wurde. Speziell im Hinblick auf die Corona-Pandemie wurde sie letztes Jahr im April 2020 von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) neu veröffentlicht und befindet sich derzeit wieder in der Überarbeitung.
Bei dem Dokument „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“ handelt es sich um eine medizinische S1-Leitlinie.1 Dabei hat sich eine Gruppe von Experten auf Empfehlungen geeinigt, die Ärzten als Entscheidungshilfe dienen soll. Zunächst wird in der Leitlinie definiert, welche Patienten nicht in den Priorisierungsprozess aufgenommen werden.
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Die Ausschlusskriterien für eine Intensivtherapie
- wenn der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat
- wenn die Therapie als medizinisch aussichtslos eingeschätzt wird, weil keine
Besserung oder Stabilisierung erwartet wird - wenn ein Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden wäre
- wenn der Patient eine Intensivtherapie ablehnt (zum Beispiel durch eine Patientenverfügung)
Die Patienten, auf die diese Ausschlusskriterien nicht zutreffen, werden in den Priorisierungsprozess miteinbezogen.
Diese Grundsätze gelten bei der Priorisierung
- Die Priorisierung muss immer alle Patienten einschließen, die der Intensivbehandlung bedürfen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Allgemeinstation, Notaufnahme, Intensivstation).
- Eine Priorisierung darf aufgrund des Gleichheitsgebots nicht nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten vorgenommen werden.
- Eine Priorisierung ist nicht zulässig aufgrund des Alters, sozialer Merkmale oder bestimmter Grunderkrankungen und Behinderungen.
Der Entscheidungsprozess erfolgt anhand mehrerer Fragen
- Besteht intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit? Wenn ja, dann weiter zur Frage 2. Wenn nein, bekommt der Patient eine Nicht-intensivmedizinische Therapie.
- Besteht eine realistische klinische Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt? Wenn ja, dann weiter zur Frage 3. Wenn nein, bekommt der Patient eine Nicht-intensivmedizinische Therapie.
- Liegt die Einwilligung des Patienten vor (vorausverfügt, zuvor mündlich geäußert oder mutmaßlich)? Wenn ja, dann weiter zur Frage 4. Wenn nein, bekommt der Patient eine Nicht-intensivmedizinische Therapie.
- Wie sind die Erfolgsaussichten des Patienten, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben? Hier wird nicht nur die aktuelle Erkrankung beurteilt, sondern auch weitere vorhandene Erkrankungen wie beispielsweise Krebs, Immunschwäche oder eine Organ-Dysfunktion.
Zusammenfassend heißt das: Wenn zwischen zwei Patienten entschieden werden soll, bekommt derjenige mit der besseren Erfolgsaussicht auf Genesung (bzw. den besseren Überlebenschancen) den Intensivbettenplatz.
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Wichtig: Die getroffenen Entscheidungen müssen bei relevanten Veränderungen neu bewertet werden. Das trifft zu, wenn sich zum Beispiel die Erfolgsaussichten eines Patienten oder die Kapazitäten der zur Verfügung stehenden Ressourcen ändern. Dann muss eine Re-Evaluation der Intensivtherapie vorgenommen werden.
Können sich Angehörige informieren, welche Priorisierung vorgenommen wurde?
Wenn eine Triage vorliegt, wird den Angehörigen die Situation und die getroffene Entscheidung über die Behandlung mitgeteilt. Dafür hat beispielsweise das Universitätsklinikum Augsburg ein Triage-Team zusammengestellt. Hier handelt es sich um einen Triage-Beauftragten, eine Pflegekraft sowie eine weitere unabhängige Person (zum Beispiel ein Mitglied des Klinischen Ethikkomitees). Meist ist es der Triage-Beauftragte oder der behandelnde Arzt, der mit den Angehörigen kommuniziert.
Wie können sich Angehörige wehren?
Bei einer Triage sind Angehörige der Entscheidung der Ärzte nicht völlig ausgeliefert. Sie können eine Entscheidung anfechten, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt. So kann beispielsweise die Priorisierung hinterfragt werden, ob nicht eventuell wichtige Aspekte zum Gesundheitszustand ausgelassen wurden oder beispielsweise das Alter fälschlicherweise einbezogen wurde. In diesem Fall kann der behandelnde Arzt beziehungsweise der Triage-Beauftragte konsultiert werden, um den Entscheidungsprozess noch mal zu überprüfen.
Wer haftet in Triage-Situationen im Streitfall?
Obwohl die Triage-Leitlinie juristisch nicht verbindlich ist, dient sie Ärzten dazu, sich vor eventuellen Klagen der Patienten und Angehörigen zu schützen. Durch eine Triage wird der Entscheidungsprozess der Beteiligten dokumentiert und kann nachverfolgt werden.
Dennoch können in solch einem Prozess Fehler passieren oder falsche Entscheidungen getroffen werden. Bei rechtswidrigen Triage-Entscheidungen haften meist die leitenden Krankenhausärzte, wenn eine fehlerhafte Triage-Entscheidung bei einem Patienten oder eine schlechte Organisation der Triage-Entscheidungen nachgewiesen wird.
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Haben Corona-Patienten Priorität?
Man könnte meinen, dass aufgrund der akuten Pandemie-Lage Corona-Patienten eine gewisse Priorität oder Bevorzugung bei der Triage haben. Doch in der medizinischen Leitlinie „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“ wird ganz deutlich darauf hingewiesen, dass bei einer Priorisierung immer alle Patienten eingeschlossen werden, die der Intensivbehandlung bedürfen. So dürfe die Auswahl der Patienten nicht nur unter den COVID-19-Erkrankten vorgenommen werden.
Allerdings wird in der Leitlinie auch darauf hingewiesen, dass die Entscheidungen insbesondere bei COVID-19-Patienten regelmäßig angepasst werden sollten. Primär, wenn sich der Zustand eines Patienten ändert oder wenn sich das Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln verschiebt.
Die ethische Frage der Triage
Wer eine Behandlung auf der Intensivstation bekommt und wer nicht, ist eine schwierige ethische Frage. Im Fall von Corona-Patienten kann es beispielsweise um ein Beatmungsgerät gehen. „Die Entscheidung, einem Patienten eine knappe Ressource wegzunehmen (z. B. Beendigung einer Beatmung), ruft regelhaft höhere moralische Zweifel hervor, als sie einem Patienten erst gar nicht zugängig zu machen“, heißt es in dem Dokument „Pandemie COVID-19: Empfehlungen zur Triage bei intensivmedizinischer Ressourcenknappheit im Katastrophenfall“ der Universität Augsburg.2 Laut den Autoren müsse man sich vergegenwärtigen, dass das Prinzip „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ einer ethischen Bewertung nicht standhält. Zugespitzt bedeutet es: Im Extremfall kann einem Patienten mit schlechten Überlebenschancen das Beatmungsgerät weggenommen werden, wenn ein anderer Patient mit einer besseren Überlebenschance auf die Intensivstation kommt und das Gerät ebenfalls benötigt.
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Auch die Verfasser der medizinischen S1-Leitlinie „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“ weisen darauf hin, „dass aus verfassungsrechtlichen Gründen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen“. Gleichzeitig müssten aber Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden, heißt es weiter. Deswegen beruhen die Empfehlungen auf begründbaren ethischen Grundsätzen: „Sie sollen die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimieren“, erklären die Autoren.
Aussicht aufs Überleben entscheidet
Laut der medizinischen Leitlinie orientiert sich die Priorisierung von Patienten am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Das bedeutet: In einer Notlage werden Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht aufs Überleben besteht. „Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben“, heißt es weiter dazu. Deswegen müsse die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht bei jedem Patienten so sorgfältig wie möglich erfolgen.
Die Triage ist ein schwieriges Unterfangen für die zuständigen Ärzte, denn sie müssen in einer Notsituation die richtige Entscheidung treffen. Am Ende soll die Triage aber helfen, möglichst viele Menschenleben zu retten und dabei ethisch richtige Entscheidungen zu treffen.
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Quellen
- 1. Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Entscheidungen zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen bei COVID-19-Pandemie. (aufgerufen am 30.11.2021)
- 2. Universitätsklinikum Augsburg. Pandemie COVID-19: Empfehlungen zur Triage bei intensivmedizinischer Ressourcenknappheit im Katastrophenfall (aufgerufen am 30.11.2021)
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (aufgerufen am 30.11.2021)
- Bundeszentrale für politische Bildung: Leben oder sterben? Triage im Wandel der Zeit (aufgerufen am 30.11.2021)