22. November 2018, 15:46 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Wandern ist Volkssport hierzulande – und das ist auch gut so. Was nicht so gut ist: Viele Flachlandtiroler stürzen sich völlig unvorbereitet ins Bergabenteuer und bringen dabei sich und ihre Mitmenschen in Gefahr. Wir haben uns von einem echten „Bergdoktor“ (und Bergführer) erklären lassen, worauf es bei der Planung ankommt – und welche typischen Fehler lebensgefährlich enden können.
Jedes Jahr gehen Millionen Deutsche wandern und jedes Jahr liest man auch von Unfällen in den Bergen, bei denen Menschen ihr Leben verlieren. Aber lässt sich das verhindern? In den meisten Fällen schon, sagt Anästhesist und Flugrettungsnotarzt Dr. med. Ulrich Steiner im Gespräch mit FITBOOK, der immer dann ausrücken muss, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Oder der Wanderer vom Wegesrand.
Obwohl das eigentlich nur die halbe Wahrheit ist. Denn gerade in den letzten Jahren sind laut aktueller Bergunfallstatistik vor allem solche Rettungseinsätze deutlich angestiegen, bei denen niemand abgestürzt ist, die Betroffenen aber von alleine nicht mehr weiter- oder zurückkommen konnten („blockierte“ Wanderer).
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Diese Fehler führen zu Wander-Unfällen
Wenn man mit Dr. Steiner über seinen Job redet, bekommt man sofort den Eindruck, dass der Mann aus seiner Berufung seinen Beruf gemacht hat. Schließlich liebt er – neben seiner Passion, als Arzt Menschen zu helfen – die Berge und ist ausgebildeter Berg- und Skiführer. Doch damit nicht genug: Ebenso bekommt man den Eindruck, dass die meisten Wanderunglücke Spiegel unserer Zeit sind. Schneller, höher, weiter. Und seine Erläuterungen dafür klingen plausibel.
Er macht drei Hauptschuldige aus:
- Selbstüberschätzung
- Mangelnde Planung
- Zeitdruck
Die beiden letzten Punkte korrelieren oft sehr stark. Das lässt sich anhand des folgenden Beispiels zeigen, das Dr. Steiner im Interview herangezogen hat.
Der (Worst-Case)-Klassiker: Städter mit wenig Zeit fliegt (Stress!) in die Berge und fährt gleich mit der Bergbahn hoch auf 2.500 Meter. Reist er in die Westalpen, liegen die Berghotels und Hütten gerne noch höher, da dort 81 der 82 alpinen Viertausender beheimatet sind. Eh noch gestresst vom Alltagsleben und der Anreise, steigt er sofort auf eine Hütte auf, die auf 3000 Meter Höhe liegt. Er ist überhaupt nicht akklimatisiert, vielleicht noch Raucher (andere Risikofaktoren wären: Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes) und schon heißt es: „Herzlich willkommen zu den besten Zutaten für einen Herzinfarkt“, wie uns der Experte erklärt.
Das Kernproblem lautet also: Extra-Stress durch fehlende Akklimatisierung. Nur ist Stress ungefähr das Letzte, was ein Flachlandtiroler mit 50-Stunden-Job im Nacken in seinem Urlaub gebrauchen kann.
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An dieser Stelle könnte man, Stichwort Zeitgeist, getrost noch die sozialen Medien ins Spiel bringen (Dr. Steiner nennt an dieser Stelle den Stammtisch). Was beide gemeinsam haben: dass es häufig gilt, Zuschauer und Zuhörer mit den eigenen Heldentaten und besonders schönen Panoramafotos zu beeindrucken.
Der Experte skizziert noch einen echten (und typischen) Einsatzfall: Manager, Anfang 50, abends erst angekommen und gleich am zweiten Tag rauf auf den Gletscher. Das Problem: nicht trainiert, Raucher und hoher Blutdruck. Das Resultat: Herzinfarkt auf der Skipiste. „Wäre er die ersten beiden Tage entspannt im Tal Ski gefahren und erst danach auf den Gletscher rauf, wäre das Risiko geringer gewesen“, erklärt er.
Richtige Vorbereitung ist überlebenswichtig
Vorbereitung ist also alles. Und die beginnt schon lange vor dem Urlaub. Dazu gehören absolute Basics wie
- regelmäßiger Sport
- richtige Ausrüstung
- Planung
Planung heißt nicht nur Wanderkarten, sondern auch das Wissen darum, wo ich im Notfall anzurufen haben. Das mag nach einem Detail klingen, aber: Sollte etwas auf dem Berg passieren, ist die Notrufnummer (in der Schweiz z.B. 1414) immer noch einer der wichtigsten Überlebensfaktoren und gehört unbedingt ins Handy eingespeichert. Planung bedeute aber laut Dr. Steiner auch: Wenn ich weiß, ich fahre in eine Region mit wenig Netz, dann muss ich ein Satellitenhandy dabei haben (das man sich mittlerweile auch ausleihen kann)! GPS-fähige Geräte sind deswegen so wichtig, weil ich damit meine genaue Position bestimmen kann, um zeitnah gefunden zu werden. Planung heißt aber auch Akklimatisierung! Tipp des Experten: die erste Nacht im Tal verbringen und am nächsten Morgen frisch gestärkt in die Berge.
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Noch ein typischer Planungsfehler: Viele konzentrieren sich nur auf den Gipfel und vergessen dabei, dass sie auch noch Kraftreserven für den Abstieg brauchen.
Auch die Ausrüstung kann über Leben und Tod entscheiden. Kann ich in meinen neuen Wanderschuhen gut laufen? Bekomme ich Blasen? Wie halten sie sich auf nassem Fels? All das will man nicht erst beim Abstieg herausfinden. Und bitte nicht warme Kleidung vergessen! Denn wenn plötzlich eine Kaltfront aufzieht und man die Zeit zur nächsten Hütte falsch (oder gar nicht) kalkuliert hat, ist man in seinen Sommerklamotten schneller erfroren, als man denkt.
Handytechnik – ein Segen?
„Flugrettungsnotarzt Dr. Steiger sagt: Ja! Er weist aber auch auf ein großes Problem hin, nämlich Missbrauch. Die Leute gehen einfach bis an ihr Limit und darüber hinaus, weil sie wissen: Bei gutem Wetter werden wir eh vom Berg geholt. Doch schlägt das Wetter um und wird eine Rettung unmöglich, kann genau dieser Übermut das Leben kosten.“–
… außer bei der Höhenkrankheit
Und doch kann Höhe gefährlich werden. Denn schon ab 2.500 Metern (Schwellenhöhe) kann es bei anfälligen Menschen zu lebensbedrohlichen Formen der Höhenkrankheit kommen, an der sie ohne Therapie versterben können. Um die Höhenkrankheit zu verhindern, muss man sich an eine wichtige Faustregel halten.
So gilt laut Dr. Steiner, die Schlafhöhe nur zwischen 300 und 500 Meter pro Tag zu erhöhen, damit sich der Körper akklimatisieren kann. Das heißt: Nach einer Nacht auf beispielsweise 2.500 Metern Höhe sollte das nächste Schlafquartier auf idealerweise unter 3.000 Metern aufgeschlagen werden.
Wichtig: Bei allen Formen der Höhenkrankheit stellt der Abstieg die wichtigste Therapie dar!
Höhenmediziner Dr. Steiner – der ehrenamtlich auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Berg- und Expeditionsmedizin* arbeitet – hat FITBOOK weiterhin verraten, dass ein bestimmter Berg besonders bekannt für seine vielen und besonders schweren Fälle von Höhenkranken sei: der Kilimandscharo (5.895) in Tansania. Warum? Weil der Aufstieg technisch nicht besonders anspruchsvoll sei und man die Höhe dementsprechend „gnadenlos steigern“ könne. Die Folge: ein gehäuftes Auftreten von Höhenhirnödemen, die unbehandelt jederzeit zum Tod führen können. Das Problem beginne laut dem Experten schon bei Reiseanbietern, die den Kilimandscharo in 7-Tages-Touren reinquetschen. Klarer Fall: Kosten-Zeit-Druck auf Kosten von Akklimatisierung!
Und damit das nicht falsch verstanden wird: Das Problem von lebensbedrohlichen Höhenhirnödemen beginnt nicht erst in Afrika, sondern schon in Europa. Dr. Steiner weiß von Kollegen aus den Westalpen, dass sie regelmäßig Wanderer von Berghütten retten, weil sie schwere Formen der Höhenerkrankung entwickelt haben. Wenn man die Betroffenen schnell auf tiefere Höhen evakuieren kann, gehen die meisten Fälle glimpflich aus. Wenn das Wetter aber eine Flugrettung verhindert, kann man auch in der heutigen Zeit daran sterben.
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Wandern ist nicht gefährlich
Jetzt könnte man natürlich den Eindruck gewinnen, dass Wandern ein gefährliches Hobby darstellt. Dem entgegnet Dr. Steiner aber, dass sehr viele Menschen nur deswegen abstürzen, weil sie vorher einen Herzinfarkt erleiden und deswegen kurzzeitig die Kontrolle (oder sogar das Bewusstsein) verlieren. Es sei also nicht der Berg, sondern ihr eigener Körper, der sie eigentlich umbringe.
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Und die Statistik gibt ihm recht. Denn laut neuesten Zahlen des Deutschen Alpenvereins (DAV) sind in den Jahren 2016 und 2017 so wenig DAV-Mitglieder in den Bergen verunglückt wie zuletzt in den 50er-Jahren. Und auch die Gesamtzahl aller Bergsteiger in den deutschen Alpen blieb nach Informationen der Süddeutschen Zeitung in den letzten Jahren stabil (niedrig), obwohl immer mehr Menschen in die Berge strömen.
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Fazit
Sie können also getrost Ihre Wanderschuhe schnüren, wenn Sie sich an diese drei goldenen Regeln halten:
- Nehmen Sie sich Zeit. 2. Planen Sie Ihren Trip gründlich. 3. Und schätzen Sie Ihre Kräfte und Fertigkeiten realistisch ein.
Viel Spaß!
*Die „Deutsche Gesellschaft für Berg- und Expeditionsmedizin“, kurz bexmed, verfolgt das Ziel der Aus- und Fortbildung von Ärzten in Alpin- und Expeditionsmedizin zur Unfall- und Krankheitsprävention in den Bergen.