24. Juni 2024, 4:24 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Vor zwei Jahren wurde bei Céline Dion das sogenannte Stiff-Person-Syndrom diagnostiziert – eine sehr seltene Nervenkrankheit, die nur ein Mal unter einer Million Menschen vorkommt. Für die kanadische Sängerin war die Diagnose ein Schock, denn das Syndrom ist unheilbar. FITBOOK verrät, was man über die Erkrankung wissen sollte.
Das Stiff-Person-Syndrom (SPS) hat seinen Namen aus dem Englischen und beschreibt bereits das Hauptsymptom, das mit der Erkrankung auftritt: Muskelgruppen verkrampfen sich und werden steif. Grund für SPS ist eine neurologische Funktionsstörung, die vor allem bei Menschen zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auftritt, seltener sind auch Kinder und ältere Menschen betroffen. Der Grund dafür ist noch nicht im Detail bekannt, man führt die Erkrankung aber auf eine Autoimmunreaktion des Körpers zurück. Betroffene sind in ihrem Alltag oft eingeschränkt, die Symptome können sich mit der Zeit verschlimmern, verändern oder auch kommen und gehen.
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Übersicht
Wer ist betroffen?
Früher wurde die Erkrankung als Stiff-Man-Syndrom bezeichnet, doch mittlerweile ist bekannt, dass Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Man geht von einer Zahl von einer betroffenen Person unter einer Million Menschen aus – die Krankheit ist also sehr selten. Experten gehen aber davon aus, dass sie verbreiteter ist als man derzeit annimmt, da Ärzte viele Fälle möglicherweise falsch oder gar nicht diagnostizieren.
Mögliche Symptome des Stiff-Person-Syndroms
Menschen mit SPS haben eine erhöhte Muskelspannung, Muskelverhärtungen, Steifigkeitsgefühl und einschießende Muskelkrämpfe, die durch bestimmte Reize, wie etwa leichte Berührungen, laute Geräusche, Schreck oder kalte Temperaturen, ausgelöst werden. Diese Symptome treten häufig in Episoden auf, können im Laufe der Zeit aber häufiger vorkommen oder in ihrer Intensität zunehmen. Die Muskelsteifigkeit befindet sich vor allem im oder nahe dem Rumpf, sie kann aber auch Beine und Arme betreffen, seltener auch Nacken und Gesicht. Durch die übersteigerte Muskelanspannung kommt es häufig zu einer abnormalen Haltung, bei der Erkrankte oftmals mit dem Rücken stark nach hinten neigen (Hyperlordose) und Schwierigkeiten beim Gehen entwickeln, sodass sie sich eher starr und ungelenk bewegen. Als Folge kommt es vermehrt zu Stürzen, die andere Verletzungen nach sich ziehen.
Weitere Symptome
- Überempfindlich gegenüber Reizen wie Lärm, Berührung und emotionalem Stress
- Ängste und Depression
- Überaktive Reflexe und unkontrollierte Muskelzuckungen
- Chronische Schmerzen
- Kurzatmigkeit, wenn Muskeln im Brustbereich betroffen sind
- Sprechstörungen, wenn die Kehlkopfmuskeln betroffen sind
- Beeinträchtigung des Sehens, das dazu führt, dass Betroffene doppelt sehen, schlechter sprechen und weniger koordiniert sind
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Welche Ursachen hat die Erkrankung?
Bislang hat die Forschung die Einzelheiten der Ursachen und Mechanismen des Stiff-Person-Syndrom noch nicht ausreichend ergründen können. Man geht aber davon aus, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Dabei greift das eigene Immunsystem gesundes Gewebe oder Botenstoffe an — dies ist generell häufiger bei Frauen der Fall. Die meisten Menschen mit SPS haben solche Antikörper im Blut, die ihr Körper selbst produziert.
Diese Antikörper attackieren vor allem ein bestimmtes Enzym, die Glutamat-Decarboxylase (GAD). Diese GAD ist wichtig für die Funktion inhibitorischer – d. h. erregungsbremsender – Synapsen im Nervensystem. Fällt die Erregungsbremse weg, dann kommt zu vermehrter Erregung bei der Muskelstimulation. Das führt dann zu den Muskelkrämpfen des SPS, aber auch zu anderen beispielsweise psychischen Symptomen wie Angst und Depression. Neben den Autoantikörpern gegen die GAD gibt es auch noch weitere Antikörper, die andere Eiweißstoffe und Enzyme attackieren. Es gibt also eine ganze Bandbreite von immunologischen Vorgängen, weswegen man das SPS wissenschaftlich mittlerweile als „Stiff-Person-Spektrum-Erkrankung“ bezeichnet.
SPS wird oft mit anderen Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht, darunter Typ-1-Diabetes, Schilddrüsenerkrankungen, perniziöse Anämie und seltener Vitiligo. In weniger als fünf Prozent der Fälle diagnostizieren Mediziner bei SPS-Erkrankten einige Jahre nach den ersten Symptomen Krebs meistens Brust- oder Lungenkrebs. Dieser Untertyp wird auch als paraneoplastisches Stiff-Person-Syndrom bezeichnet. Als weitere Ursache für SPS wird eine genetische Veranlagung vermutet, wodurch Betroffene anfälliger für Autoimmunerkrankungen sind. Auch Infektionen und Umweltfaktoren könnten eine Rolle spielen.
Welche Arten von SPS gibt es?
Anhand der Symptome werden verschiedene Typen von SPS diagnostiziert. Daher spricht man von „Stiff-Person-Spektrum-Erkrankung“. Je nach Art entscheiden Ärzte dann das Vorgehen der Behandlung. Man unterscheidet zwischen:
Klassisches Stiff-Person-Syndrom
Diese Form ist am häufigsten. Die Symptome umfassen Steifheit und Krämpfe in den Muskeln des unteren Rückens, der Beine und manchmal des Bauches. Betroffene Menschen haben oft einen steifen Gang und können ganztägig Schmerzen haben.
Fokales oder segmentales SPS
Diese Form tritt selten auf und ist eine Kombination aus klassischen Merkmalen und Symptomen, die auf eine Dysfunktion des Hirnstamms oder Kleinhirns hindeuten. Menschen mit SPS Plus können Muskelkrämpfe, Steifheit und Koordinationsschwierigkeiten haben. Auch doppelt sehen und verwaschen sprechen gehört zu den Folgen.
Andere SPS-Typen
Noch seltenere Formen umfassen die progressive Enzephalomyelitis mit Rigidität und Myoklonien (PERM), die schnell fortschreitet und zu schmerzhaften Krämpfen führt. Auch andere Syndrome können mit SPS überlappen und Symptome und Befunde aufweisen, die auf eine Dysfunktion im Hirnstamm, Kleinhirn, Rückenmark und Gehirn hinweisen.
Das sind Risikofaktoren
Da die Ursache für SPS noch nicht klar definiert werden kann, sind auch die Risikofaktoren kaum erforscht. Den größten Einfluss hat vermutlich das Geschlecht, da SPS fast doppelt so häufig bei Frauen auftaucht als bei Männern. Möglicherweise liegt dies an geschlechtsspezifischen immunologischen oder genetischen Faktoren. Andere Autoimmunerkrankungen, Umweltfaktoren und Infektionen könnten eine Rolle spielen.
Wie diagnostiziert man die Erkrankung?
Eine SPS-Diagnose ist anspruchsvoll und kann manchmal Jahre in Anspruch nehmen, da die Erkrankung sehr komplex und selten ist sowie die Symptome unspezifisch und variabel auftreten. Anhand einer klinischen neurologischen Untersuchung, sowie typischen Veränderungen der betroffenen Muskeln kann die Muskelsteifigkeit und Reflexveränderungen festgestellt werden. Elektrophysiologische Tests untersuchen die krankhafte elektrische Aktivität der Muskeln und die Übertragung von Nervenimpulsen z.B. mittels der Elektromyographie (EMG). Diese Tests helfen, die Übererregbarkeit des Nervensystems zu erfassen, die bei SPS vorliegt.
In einigen Fällen werden andere Symptome mithilfe von Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns und Rückenmarks ausgeschlossen. Bluttests und Test aus dem Liquor („Nervenwasser“) helfen, spezifische Antikörper zu identifizieren, die mit SPS assoziiert sind, insbesondere die Anti-GAD-Antikörper. Diese Antikörper sind zwar nicht immer vorhanden, aber ihr Nachweis kann die Diagnose unterstützen. Allerdings sind diese Antikörper auch bei manchen Gesunden nachweisbar.
Behandlung der Erkrankung
Bisher können Erkrankungen nicht vollständig geheilt werden, eine individuell abgestimmte Therapie kann die Symptome aber mindern und zur Lebensqualität der Betroffenen beitragen. Es gibt zwei Säulen der Behandlung: (1) Bekämpfung der ursächlichen Autoimmunstörung (Therapie der Ursache) und (2) Behandlung der Muskelübererregung (Therapie der Symptome).
Gegen die Autoimmunstörung werden – wie auch bei anderen Autoimmunerkrankungen – Medikamente eingesetzt, die die Immunreaktion abschwächen oder unterdrücken. Dazu gehören Kortison, andere immunsuppressive Medikamente oder Immunglobuline. Mittels einer Plasmapherese („Blutwäsche“) kann man versuchen, die Antikörper durch Filter zu entfernen).
Die Muskelübererregung kann man durch unterschiedliche Medikamente behandeln, die zu einer Muskelentspannung führen. Dazu gehören vor allem Benzodiazepine, die meist in hoher Dosis benötigt werden. Werden physische Symptome durch Angst ausgelöst, können Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt werden, die auch bei der Behandlung von Depressionen verwendet werden.
Immunbasierte Therapieformen beinhalten intravenöse oder oral verabreichte immunsuppressive Medikamente und Immunglobuline sowie seltener Plasmaaustausch.
Neben der Behandlung mit Medikamenten helfen auch muskelentspannende Maßnahmen wie etwa Physiotherapie, Wassergymnastik, Yoga und Pilates, Massagen, Akupunktur und Verhaltenstherapie.
Prognosen und Lebenserwartung
Auch wenn das Stiff-Person-Syndrom unheilbar ist, verläuft es in der Regel nicht tödlich und führt nicht unbedingt zu einer geringeren Lebenserwartung. Nur in extremen Fällen beeinträchtigen Muskelkrämpfe im Brustbereich die Fähigkeit, zu atmen. Allerdings kann die Erkrankung Betroffene so sehr beeinflussen, dass diese sich nur noch mit Rollstuhl fortbewegen können oder bettlägerig werden. Tödliche Komplikationen entstehen durch Folgen von SPS, wie etwa Blutgerinnsel oder Wundinfektionen aufgrund der Immobilität. Ein Risikofaktor sind auch Komplikationen und Frakturen bei schweren Stürzen. Die Lebenserwartung von SPS-Erkrankten wird häufig auch durch begleitende andere Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes beeinflusst.
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Was kann man präventiv gegen die Erkrankung tun?
Derzeit gibt es laut Deutscher Hirnstiftung keine präventiven Empfehlungen, um SPS verhindern zu können. Allerdings bestehen allgemeine Empfehlungen, die das Risiko für Autoimmunerkrankungen potenziell verringern. Dazu gehört eine gesunde Lebensweise mit einer ausgewogenen Ernährung, regelmäßigen körperlichen Aktivitäten und ausreichend Schlaf. Stress, Rauchen und andere Infektionen können das Risiko für Autoimmunreaktionen erhöhen. Regelmäßige ärztliche Untersuchungen, insbesondere bei Auffälligkeiten, helfen, potenzielle Symptome und Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.1,2,3,4,5
Dieser Artikel wurde fachlich geprüft von Prof. Dr. med. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung.