10. Juli 2019, 7:03 Uhr | Lesezeit: 19 Minuten
Dass Ballett buchstäblich auf die Knochen geht, ist wahrlich kein Geheimnis. Dass sich das (zumindest teilweise) vermeiden ließe, hingegen schon. Der Knackpunkt: Tänzer sind absolute Hochleistungssportler, werden aber fast nie wie solche betreut. Regelmäßige Massagen, Physiotherapie und schnelle Arzttermine, um Verletzungen effektiv vorzubeugen? Fehlanzeige. Schuld daran sind aber nicht (nur) die Theaterhäuser, erklären uns zwei führende Experten aus der Tanzbranche. Exklusiv für FITBOOK haben sie in einem Maßnahmenkatalog aufgelistet, was sich jetzt zugunsten der Tänzer ändern muss. Die gute Nachricht: Es tut sich schon was.
Wenn man sich mit der gesundheitlichen Versorgung von Tänzern und Tänzerinnen beschäftigt, stößt man schnell auf Fakten, die einen überrascht und irritiert zurücklassen. Fakten, die einem Journalisten die perfekte Vorlage dafür geben, einen reißerischen Artikel zu verfassen – und dabei noch wohlfeil mit der moralischen Keule zu schwingen.
Wenn man sich dann mit Insidern unterhält, werden einem zwei Dinge genauso schnell klar:
- Die Leidtragenden in der Branche sind tatsächlich die Tänzer.
- Bei der „Schuldfrage“ wäre es zu kurz gegriffen, nur auf die Theaterhäuser zu zeigen, weil sich das Dilemma deutlich komplexer gestaltet.
Darum eins nach dem anderen.
Die Theaterhäuser sind nicht die „Bösen“
Mein Interesse für das Thema Tanz wurde durch ein Interview mit Louisa Paterson geweckt. Die ehemalige Primaballerina am weltberühmten Friedrichstadt-Palast hatte FITBOOK von den typischen Freuden und Leiden einer Berufstänzerin erzählt. Von einer weiteren Ex-Tänzerin am Palast, die anonym bleiben will, erfuhr ich im Anschluss, dass es für die Tanzcrew nicht einen Vollzeit-Physiotherapeuten gab, was der Palast gegenüber FITBOOK telefonisch bestätigt hat.
Verwöhnt vom Schlaraffenland Fußball, wo schon Amateur-Kicker kostenlos durchgeknetet werden, konnte ich kaum glauben, was ich da hörte. Als ich dann noch las, dass sich der Palast das Stück, bei dem Paterson die Hauptrolle tanzte (The Wyld), mehr als zehn Millionen Euro kosten ließ, läuteten in mir alle Robin-Hood-Alarmglocken. Sofort recherchierte ich nach geeigneten Interviewpartnern, die mich in meiner ersten Empörung bestimmt noch bestärken würden.
Pustekuchen. Denn sowohl die deutschlandweit führende Tanzmedizinerin Dr. med. Elisabeth Exner-Grave von der medicos.AufSchalke als auch der renommierte Tanz-Physiotherapeut Andreas Stommel – der schon Helene Fischer und ihre Crew auf einer mehrwöchigen Deutschland-Tournee betreute – haben klargestellt, dass die Frage der Verantwortlichkeit für Schwarz-Weiß-Schuldzuweisungen viel zu verworren sei.
Im Klartext: Beide sind der Meinung, man könne die Schuld nicht einfach so den „bösen“ Theaterhäusern – in unserem Fall: dem Friedrichstadt-Palast – in die Schuhe schieben. Dem Palast müsste man zudem zugutehalten, dass man sich dort in puncto Arbeitsrecht vorbildlich verhalten würde (was damit gemeint ist, erfahren Sie gleich).
Also bleiben wir für den Moment bei zwei sicheren Fakten:
- Es fließt insgesamt zu wenig Geld in der Branche.
- Ein Berufstänzer leistet körperlich so viel wie ein Hochleistungssportler, hat aber aufgrund seines Versicherungsstatus als Künstler viel zu wenig Anspruch auf gesundheitsfördernde Maßnahmen.
Das Versorgungsdilemma im Tanzgeschäft
Im Vergleich zu Tänzerinnen und Tänzern mache sich ein Fußballprofi körperlich nicht gerade tot, erklärt Stommel. Das klingt vielleicht ein bisschen populistisch, ist aber eigentlich noch milde formuliert. Denn: In der Regel trainiert ein Profi drei Stunden am Tag. Davor und danach erwartet ihn ein üppiges Wellnessprogramm. Rund um die Uhr kann er außerdem eine hochspezialisierte Medical Crew in Anspruch nehmen.
In der Welt der Tänzer sieht das Ganze deutlich weniger entspannt aus. Ein klassischer Probentag kommt auf fünf, nicht selten acht Stunden körperlicher Arbeit. Ist man vielleicht noch freiberuflich tätig (wie die meisten Tänzer in Deutschland!), sprechen wir schnell von zehn, manchmal sogar zwölf Stunden. Ein Physiotherapeut oder auch nur Masseur am Ende des harten Tages? Fehlanzeige.
Experte kritisiert Friedrichstadt-Palast
Zurück zum Beispiel Friedrichstadt-Palast. Im Palast gibt es keinen Physiotherapeuten, der sich ausschließlich um die dort angestellten Tänzer kümmert. Gleichzeitig gibt es im Haus aber eine physiotherapeutische Praxis. Wie kann das sein? Die Auflösung: Es handelt sich um eine gewöhnliche Kassenpraxis, die im Prinzip jedem offensteht. Die gute Nachricht: Der dortige Physiotherapeut habe für die Belange der Tänzer „insgesamt 32 Stunden die Woche reserviert“, wie der Palast FITBOOK in einer E-Mail erklärt. In diesem Zeitfenster könnten sich die Künstler dann auch ohne Rezept und kostenlos behandeln lassen.
Besser als an vielen Häusern sei diese Versorgung schon – wirklich gut aber eben auch noch nicht, urteilt Stommel. Die jetzige Situation würde „auf Kosten der Gesundheit der Tänzer gehen, weil es sie anfälliger für Verletzungen und chronische Schmerzen macht“. Wie es im – zugegeben nicht immer finanzierbaren – Idealfall aussehen sollte, hat er mir anhand eines Personalschlüssels erklärt.
An einem ganz normalen Arbeitstag könne sich Stommel, der das Bonner Zentrum für Ambulante Rehabilitation leitet, um rund 15 Patienten kümmern. Umgerechnet auf ein Ensemble mit 20 Tänzern würde in der Regel ein Physiotherapeut ausreichen, weil nicht jeder Tänzer jeden Tag nach einer Behandlung frage. Im Fall des Friedrichstadt-Palasts mit seinen 60 Tänzern käme man so auf mindestens drei Physiotherapeuten – die in Vollzeit und zu 100 Prozent für die Palast-Tänzer da sein müssten. Also fernab der Realität.
Vorteil Stuttgarter Ballett und Staatsballett Berlin
Dass es auch anders geht, zeigt das Stuttgarter Ballett. Das zählt wie der Palast um die 60 Tänzer, aber eben auch zwei festangestellte Physiotherapeuten (einer in Vollzeit, einer in Teilzeit), wie Julia Weiland, zuständig für die Pressearbeit am Stuttgarter Ballett, auf FITBOOK-Anfrage mitgeteilt hat.
Ebenfalls am Staatsballett Berlin sind die Tänzer besser versorgt. Dort erklärte man gegenüber FITBOOK, dass zu allen Trainings-, Probe- und Vorstellungszeiten mindestens ein Physiotherapeut – häufig auch noch ein Osteopath – anwesend sei, von dem sich die Tänzer kostenfrei behandeln lassen können. Der Vorteil hier: Der Gesundheitsexperte ist schon vor Ort, kann direkt zurate gezogen werden und/oder proaktiv eingreifen und mögliche Überlastungen und Fehlbelastungen frühzeitig erkennen.
Schlaraffenland NYC Ballett: Perfekte medizinische Betreuung
Noch deutlich besser sieht es beim New York City Ballett aus, erzählt mir Andreas Stommel, wo ihn eine seiner zahlreichen Hospitationen hingeführt hat. Dort konnte er vier Wochen lang bewundern, wie sich ein Team aus zwei Physiotherapeutinnen, drei Pilates-Trainern, einem Orthopäden und einem Internisten um das Wohl der Tänzer kümmerte. Er stellt aber auch klar: Dort ist viel mehr Geld im Spiel als etwa am Friedrichstadt-Palast, dank zahlungskräftiger Sponsoren und großzügiger Mäzene. Denn allein über Ticketverkäufe lasse sich so eine vorbildliche Versorgung auch nicht finanzieren.
Tickets oft zu günstig
Obwohl Ticketverkäufe durchaus ein Thema sind. Stommel sagt, dass auch wir Zuschauer uns die Frage stellen müssen, wo das Geld eigentlich herkommen soll. „Solange ich für eine Theaterkarte nur 20 Euro ausgebe, aber beim Fußball auch für einen schlechten Tribünenplatz bereitwillig 40 Euro und mehr zahle, solange wir meinen, Kultur in Deutschland mit einem ‚Zwanni‘ einkaufen zu können, solange werden wir auch die Rahmenbedingungen für Tänzer nicht verbessern können.“
Was uns zum Anfang zurückbringt: Es muss mehr Geld in den Tanzkosmos fließen.
Aber auch: Vorbild Palast
Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen: Mit diesem Beitrag soll keineswegs suggeriert werden, dass der Friedrichstadt-Palast das Schwarze Schaf der Tanzindustrie darstellt. Ganz im Gegenteil. Beide Experten unterstreichen, dass der Palast unter Tänzern zu den begehrtesten Arbeitgebern zählt – und das weltweit.
Was macht man dort besser als an vielen anderen Theaterhäusern? Der Palast stattet seine Tänzer mit richtigen Arbeitsverträgen aus. Das heißt: geregelte Arbeitszeiten, bezahlter Urlaub, Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung. Das alles sind Annehmlichkeiten, von denen ein freiberuflicher Tänzer nur träumen kann. Der Palast macht also sehr vieles richtig, wäre da nicht die verbesserungsfähige Versorgung seiner Tänzer.
Behandlung wird Tänzern zu schwer gemacht
Für Verletzungsvorbeugung ist keine Zeit da
Der chronische Zeitmangel vieler Inhouse-Physiotherapeuten sorgt dafür, dass in der Regel nur akut verletzte Tänzer einen Termin kriegen. Zeit für präventive Betreuung bleibe da eigentlich nicht, erklärt Stommel. Und da auch die Tänzer einen extrem vollgepackten Tag haben (angesichts von Training, Proben, Aufführungen und dem wenigen Privatleben, das übrig bleibt), ist die zeitliche Schnittmenge zwischen Tänzer und Physio extrem gering. Es ist also keine Seltenheit, wenn vielerorts Tänzer ihren hausinternen Physiotherapeuten nicht erwischen. Wie kann ich jetzt als Tänzer doch noch an meine so dringend benötigte Behandlung kommen? Antwort: auf demselben Weg wie meine Zuschauer. Sie ahnen schon, das kann keine gute Nachricht für einen Hochleistungssportler sein.
Behandlung oft nur auf Rezept
Viele Tänzer sind bei der Künstlersozialkasse (KSK) versichert, die den Status einer gesetzlichen Krankenversicherung hat. Braucht ein Tänzer Physiotherapie, braucht er dafür ein Heilmittelrezept. Dieses Kassenrezept berechtigt zu sechs Therapieeinheiten. Und weil die KSK einer gesetzlichen Krankenversicherung entspricht, unterliegen die behandelnden Ärzte auch hier den allseits bekannten Verordnungslimits. Um von den Krankenkassen nicht in Regress genommen zu werden, wird sich der Arzt auch bei hochbelasteten Tänzern davor hüten, Folgerezept um Folgerezept zu verordnen. Das mag Otto Normalverbraucher schon wehtun, wird aber bei Berufssportlern zu einem echten gesundheitlichen Risiko.
Behandlungsdauer zu kurz
Selbst wenn der Tänzer jetzt in den Genuss eines Folgerezeptes kommt, ist die Welt noch lange nicht in Ordnung. Das Problem fange schon bei der reinen Behandlungsdauer an, wie mir Stommel erklärt:
„Eine Therapieeinheit dauert 20 Minuten, brutto versteht sich. Bis der Patient dann schließlich auf der Liege ist, habe ich netto vielleicht 17 Minuten, um mich um seinen geschundenen Körper zu kümmern. Bei einer Verletzung, egal ob nun akut oder chronisch, ist das natürlich viel zu wenig.“
Wir halten fest: Die meisten Theaterhäuser bieten keine oder nicht genügend Physiotherapeuten an. Das zwingt die (häufig nur Englisch sprechenden!) Tänzer dazu, sich in die langsam mahlenden Mühlen der deutschen Bürokratie zu begeben. Erste Anlaufstelle sind gesetzliche Krankenversicherungen – mit dem Nachteil, nicht die Menge an Therapieeinheiten zu bekommen, die der Tänzer eigentlich braucht.
Wem das zu wenig ist, kann sich privat krankenversichern oder aber eine private Unfallversicherung abschließen. So die Theorie. Die Praxis sieht anders aus, sagt Dr. Exner-Grave: „Da die Tanzprojekte in der Regel nur wenige Monate dauern, ist das ein finanzieller Aufwand, den die Tänzer gemessen an deren Gehältern weder aufbringen können noch möchten.“
Zusammengefasst: Der Teufelkreis
„“–
Physiotherapie ist nicht nur nach Unfällen wichtig
Übrigens beschränken sich die gesundheitlichen Risiken von Berufstänzern nicht auf Unfälle und akute Verletzungen, die eine orthopädische und/oder physiotherapeutische Behandlung nötig machen. „Der Körper eines Tänzers läuft so heiß, dass er im Grunde täglich gewartet werden müsste. Leider kriegt kein Tänzer die dafür notwendige Anzahl an Folgerezepten verschrieben“, erklärt mir Stommel das Dilemma.
Dazu kommt, dass die meisten Tänzer in ihrem Bewegungsorgan eine Sollbruchstelle haben, bei Männern aufgrund der vielen Hebefiguren nicht selten die Lendenwirbelsäule und die Schultergelenke, bei Damen oft das Hüftgelenk und die Füße (Stichwort Hallux valgus) als Konsequenz einer Überbeweglichkeit. Das bestätigt auch Dr. Exner-Grave und stützt sich dabei auf aktuelle wissenschaftliche Publikationen: „Im professionellen Tanz treten chronische Überlastungsschäden mehr als doppelt so häufig auf wie akute Verletzungen.“
All das macht einen regelmäßigen, und zeitlich wie finanziell realistischen, Zugang zu physiotherapeutischen Angeboten nötig.
Physiotherapie allein reicht nicht aus
Doch nur, weil ein Haus einen festen Physio stellt, sind noch lange nicht alle Probleme vom Tisch. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich viele Tänzer nicht trauen, sich mit ihren Schmerzen dem hausinternen Physiotherapeuten anzuvertrauen. Zum Beispiel aus Angst, er könnte dem Kompaniemanager den Tipp geben, sicherheitshalber einen anderen (gesünderen) Tänzer für die Rolle einzuplanen.
Den anderen Grund hat Dr. Exner-Grave so formuliert: „Der Physiotherapeut allein reicht nicht aus, um die medizinische Grundversorgung dieser schwer arbeitenden Berufsklasse sicherzustellen. Dafür bedarf es dringend eines Teams aus Ärzten, Sportwissenschaftlern und Therapeuten rund um die Tänzer.“
Viele Ärzte sind überfordert
Das nächste große Problemfeld: Viele Ärzte haben wenig bis gar keine Ahnung, was z.B. balletttypische Verletzungen und Behandlungen betrifft. Und das kriegen Tänzer natürlich auch mit. Mit der Folge, dass ein Arzttermin schnell enttäuschend endet, wie auch Dr. Exner-Grave weiß: „Manche Ärzte sagen nur: ‚Sie haben halt kaputte Gelenke. Hören Sie am besten mit der Karriere auf‘. Statt den Tänzern zu sagen: ‚Diese Folgeschäden liegen vor – und das sind die Behandlungsmöglichkeiten‘“. Dazu gehören beispielsweise Rehamaßnahmen, mit deren Hilfe eine schon totgesagte Karriere doch noch über Jahre fortgesetzt werden kann. Reha für Sportverletzungen gibt es in ganz Deutschland, Reha speziell für Tänzer entwickelt hingegen nur in Gelsenkirchen – an Dr. Exner-Graves tanzmedizinischem Kompetenzzentrum.
Was ist Tanzmedizin?
„Die Tanzmedizin ist ein Spezialgebiet der Sportmedizin. Sie dient der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung tanzspezifischer Erkrankungen. Ziel ist es, die Gesundheit der Tänzer zu fördern und deren Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen.Quelle: www.medicos-aufschalke.de“–
Ein weiteres Problem: Viel zu oft wird einfach nur Cortison gespritzt, „ab und an mal eine gute Akutlösung, aber eben keine Dauerlösung“, so Dr. Exner-Grave. Genauso sollten OPs eben nur dann durchgeführt werden, wenn alle anderen Therapieansätze ausprobiert worden sind. „Sind alle therapeutischen Möglichkeiten wirklich ausgeschöpft? In der Regel nein.“ Als Beispiel nennt Dr. Exner-Grave den Fall des Startänzers David Hallberg. Der hatte so viele Vorstellungen getanzt, dass es zu schlimmen Fuß- und Sprunggelenksverletzungen kam, seine Karriere hing in den Seilen. Hallberg ließ sich in Australien untersuchen, wo die Ärzte zu dem Schluss kamen: „Du brauchst keine neue OP, was dir fehlt, sind Ausdauer und Kraft.“ Hallberg ist wieder zurück auf der Bühne – und das als gefeierter Solist am New York City Ballett.
Kurzum: Man muss den Tänzern die Angst vor dem Gang in die Arztpraxis nehmen. Und zeitgleich dafür sorgen, dass sie zu den richtigen Ärzten gehen, „die, die ein Herz fürs Tanzen haben“, wie es Stommel formuliert. Und natürlich mehr Ärzte für das Thema Tanzmedizin gewinnen, sensibilisieren, aufklären, Fortbildungen fördern. Genau das ist das Ziel von tamed, der 1997 gegründeten deutschsprachigen Institution zur Förderung der Gesundheit und der Lebensqualität von Tänzern.
Die gute Nachricht: Es tut sich was
Trotz aller Missstände betonen beide Experten, dass sich das Gesundheitsbewusstsein innerhalb der Tanzindustrie in eine positive Richtung entwickelt. Da wären auf der einen Seite die Kompaniemanager, die verstanden haben, wie groß die physische und psychische Belastung ist und dass etwas getan werden muss. Dr. Exner-Grave berichtet darüber, dass immer häufiger Theaterdirektoren in ihrem Kompetenzzentrum anrufen und sich um einen zeitnahen Termin für ihre Künstler bemühen. Besonders lobt die Expertin den Einsatz von Sabrina Sadowska, Ballettdirektorin am Theater Chemnitz. Sadowska hat die Stiftung „Tanz – Transition Zentrum Deutschland“ ins Leben gerufen, die Tänzern nach dem Karriereende dabei hilft, neue Berufswege einzuschlagen. Sadowska hat schon zusammen mit der Tanzmedizinerin über schriftlichen Widersprüchen nach abgelehnten Rehaanträgen gebrütet. Sadowska lässt Dr. Exner-Grave zu dem Schluss kommen: „Nein, man kann nicht sagen, dass Direktoren nur ihre Tänzer verschleißen würden.“
Neue Institutionen machen Hoffnung
Dazu kommen neuentstandene Institutionen, die Mut machen. Zum Beispiel am Staatsballett Berlin, wo ein Pool aus Therapeuten und Body-Awareness-Coaches seine Patienten an die richtigen Ärzte vermittelt. Manche Initiativen wurden auch von Tänzern selbst gegründet, etwa dancers connect, die für die Interessen von Tänzern auf politischer Ebene kämpft. Doch es muss eben noch mehr getan werden, finden Dr. Exner-Grave und Stommel. Darum haben sie für FITBOOK ihre wichtigsten Forderungen zusammengestellt:
Das fordern die Experten
Festangestellter Physiotherapeut
- Dr. Exner-Grave: Ich fordere, dass jedes Theater eine Vollzeitstelle mit festangestellten Physiotherapeuten für die Rundum-Betreuung seiner Tänzer besetzt und darüber hinaus einen festen Arzt hat, der einmal in der Woche ins Theater kommt. So kann er die Tänzer vor Ort untersuchen, beraten und einen individuellen Behandlungsplan erstellen.
Kooperationspraxis für jedes Theater
- Andreas Stommel: Ich fordere, dass jedes Theater eine Kooperationspraxis hat. Die muss sicherstellen, dass der Tänzer bei Bedarf sofort, spätestens aber einen Tag nach Anruf einen Termin bekommt. Außerdem sollte sie ihr Budget vor allem für Tänzer einsetzen. Diese Praxis muss außerdem so vernetzt sein, dass der Tänzer schnell und unkompliziert Termine bei anderen Praxen für bspw. ein MRT erhält.
Ärztliches Mitspracherecht an Tanzschulen
- Dr. Exner-Grave: Ich fordere ein ärztliches Mitspracherecht an den berufsbildenden Tanzschulen. Damit man einem Bewerber sagen kann: Wenn du professionell tanzen willst, ist es aufgrund deines Körperbaus wahrscheinlich, dass sich diese oder jene Fehlstellung bei dir entwickelt und wie du damit umgehen kannst (Sekundärprävention). Außerdem fordere ich ein medizinisches Screening von allen neu hinzugekommenen Tänzern an Theaterhäusern: Wie sind die körperlichen Voraussetzungen, die Ausdauerleistung, die Blutwerte (Stichwort: Vitamin-D-Mangel)?
Nachhaltige Gesunderhaltung
- Andreas Stommel: Ich fordere, dass sich ein Theaterhaus nicht nur um tolles Marketing und schöne Kostüme bemüht, sondern auch um eine nachhaltige Gesunderhaltung seiner Tänzer. Wer das nicht tut, handelt meiner Ansicht nach verantwortungslos.
Fortbildungen in Tanzmedizin
- Dr. Exner-Grave: Ich fordere Fortbildungen in der Tanzmedizin speziell für Ärzte und zuständige Mitarbeiter aus dem Kranken- und Rentenversicherungssystem, um für das Thema medizinische Versorgung von Künstlern zu sensibilisieren.
Verbesserter arbeitsrechtlicher Schutz
- Andreas Stommel und Dr. Exner-Grave: Wir fordern einen besseren arbeitsrechtlichen Schutz von freischaffenden Künstlern – und generell eine kostendeckende Finanzierung für verletzte/erkrankte Tänzer in der Rehabilitation.
Die wichtigste Forderung, die in beiden Interviews mit Dr. Exner-Grave und Stommel an verschiedenen Stellen zutage getreten ist: eine bessere Kommunikation zwischen allen Verantwortungsträgern. Also zwischen Theaterhäusern, Tänzern, Ärzten, Sportwissenschaftlern, Therapeuten und Versicherungen.
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Gilt seit 1. November Neue Regelung bei Verordnung von Physiotherapien
Fazit
Die meisten Theaterhäuser in Deutschland (z.B. auch der Berliner Friedrichstadt-Palast) haben keine festangestellten Physiotherapeuten. Das zwingt die Tänzer dazu, sich außerhalb des Theaters selbst um medizinische Hilfe zu kümmern. Ein weiteres Dilemma ist, dass Tänzer versicherungstechnisch nicht als Sportler, sondern als Künstler gelten. Konkret heißt das: Braucht ein Tänzer Physiotherapie, braucht er dafür ein Heilmittelrezept. Nach gerade einmal sechs Therapieeinheiten (à 20 Minuten!) wird ein Folgerezept fällig. Um nicht in Regressgefahr zu geraten, wird sich der Arzt selbst bei hochbelasteten Tänzern davor hüten, Folgerezept um Folgerezept zu verordnen. Das mag Otto Normalverbraucher schon wehtun, wird aber bei Berufssportlern zu einem echten Gesundheitsrisiko. Darum fordern Experten u.a. einen festangestellten Physiotherapeuten und eine feste Kooperationspraxis für jedes Theater.