12. Mai 2023, 13:58 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Sogenannte „Shitstorms“ fegen heutzutage schnell in den sozialen Medien über einen hinweg, wenn Nutzer nicht mit geteilten Inhalten einverstanden sind. Ein solcher hat nun im wahren Wortsinn nach einem Post über Durchfall auch die deutsche Krankenkasse Barmer ereilt. Sie zog ungewollt den Unmut von Menschen mit chronischen Darmerkrankungen auf sich. Was genau passiert ist und warum die Kontroverse für die Autorin nachvollziehbar ist.
Eine große deutsche Krankenkasse hat in den sozialen Medien ein witziges Meme zu dem Thema „Oversharing“, also auf Deutsch „zu offenherzig sein“ gepostet. Allerdings fanden viele chronisch kranke Menschen, dass man zu dem Thema des Posts gar nicht offenherzig genug sein kann. Denn es ging um Durchfall. Und gleichzeitig um Sichtbarkeit für Krankheiten, über die zu gern noch immer geschwiegen wird. Denn noch immer sind chronisch-Entzündliche Darmerkrankungen keine „salonfähige“ Krankheit. Der Shitstorm für die Barmer sei deshalb berechtigt, so unsere Autorin.
Übersicht
Chronische Darmerkrankungen – verbreitet, unangenehm, schmerzhaft
Laut Schätzungen leben allein in Deutschland 420.000 bis 470.000 Menschen mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung.1 Diese Daten basieren auf einer britischen Studie, welche Fallzahlen aus den Jahren 2000 bis 2017 statistisch ausgewertet hat. Die Tendenz der Fallzahlen, die die Wissenschaftler anhand der Daten aufzeigen konnten, war stark steigend. Besonders bei Jugendlichen ließ sich im Untersuchungszeitraum ein Anstieg von 94 Prozent der Fälle darstellen.2
2007 wurde auch bei mir eine chronische Darmerkrankung diagnostiziert. Ich habe Colitis Ulcerosa, bin CEDler.
Dies ist jedoch nur eine der chronischen Entzündungen, zu denen der menschliche Darm fähig ist. Ebenfalls dazu zählen Morbus Crohn sowie die mikroskopische Colitis. Alle diese Erkrankungen sind mit Symptomen verbunden, die nur als unangenehm und schmerzhaft beschrieben werden können. 20-mal am Tag auf die Toilette gehen zu müssen, ist für Colitis-Ulcerosa-Patienten im Schub keine Seltenheit.
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Warum die Barmer einen Shitstorm von Menschen mit Darmerkrankungen auf sich gezogen hat
Wie aber hat die Barmer-Krankenkasse nun den Unmut der CEDler auf sich gezogen? Das Meme, welches die Kasse postete, sieht auf den ersten Blick harmlos aus. Zwei Smileys treffen sich, nach der Begrüßung entsteht eine Gesprächspause und um die peinliche Stille zu füllen, platzt einer heraus: „Boah, hatte ich gestern krassen Durchfall.“ Im nächsten Moment schämt er sich offensichtlich dafür mit dieser Kommunikation herausgeplatzt zu sein.
Der Text zum Post spielt mit Worten wie „unangenehm“ und „ungefragt private Infos“ preiszugeben. „Oversharing“ sei laut dem Post der Barmer ein Zeichen von:
- Einem Bedürfnis nach Nähe
- Der Kompensation von Einsamkeit
- Dem Vermeiden von Stille
- Mangelndem Selbstbewusstsein
- Dem Wunsch nach Feedback
Verlinkt wird der Post mit den Hashtags „Mentale Gesundheit“ und „Psychologie“.
Dies kam bei CEDlern und auch bei mir nicht besonders gut an. Die Kommentare unter dem Post waren lang und zahlreich. Der Unmut der Betroffenen erregt, die Kommentare jedoch weitgehend konstruktiv. Eine Nutzerin schrieb: „Wir kämpfen jeden Tag gegen Tabus und [für] mehr Offenheit! Genau sowas macht es den Betroffenen das Leben mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung zusätzlich so viel schwerer!“ Eine andere Nutzerin schrieb: „Ihr schreibt über mentale Gesundheit und benutzt dabei Rhetorik, die den Alltag einer Gruppe von Menschen mit (oft unsichtbarer) Behinderung (in diesem Fall CED Patient*innen) tabuisiert.“
Warum ich den Shitstorm für gerechtfertigt halte
Auch ich sehe es sehr ähnlich. Dieser Post verdeutlicht Betroffenen, dass es unangebracht sei, über Beschwerden dieser Art zu sprechen, und dass sie als Tabu gelten. Auch mangelndes Selbstbewusstsein wird chronisch Kranken attestiert. Wenn man solche Dinge liest, lädt das Betroffene nicht gerade dazu ein, offen und ehrlich über ihre Symptome zu sprechen. Was jedoch wichtig ist, denn nur so:
- können Ärzte beurteilen, ob sich der nächste Schub anbahnt
- können Freunde und Familie verstehen, weshalb man gerade nicht ins Kino gehen, sondern lieber mit einer Wärmflasche auf der Couch sitzen möchte
- können Kollegen nachvollziehen, warum man häufiger Toiletten-Pausen braucht
- können Vorgesetzte verstehen, warum man in regelmäßigen Abständen Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen muss
Noch immer wird über diese Krankheiten nicht genug aufgeklärt, denn sie erinnern uns alle an Dinge, die wir gern hinter geschlossenen Toilettentüren lassen. „Das find‘ ich jetzt eklig“ – diesen Satz habe ich schon oft gehört, wenn im sozialen Kontext explizit danach gefragt wurde, was ich denn habe. Ich gehe nicht gern mit der Tatsache hausieren, dass ich einen Monat lang Durchfall hatte. Du hast gefragt.
Als CEDler erlebt man oft genug Schwierigkeiten, die man im Alltag meistern muss. Man ist unterwegs und bekommt plötzlich Symptome. Das nächste Behinderten-WC ist jedoch über einen Kilometer entfernt und man schleppt sich mit Krämpfen in höchster Not dorthin. Denn ja, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sind so schlimm, dass man ein Anrecht auf den Schlüssel zu Behinderten-WCs hat und sich sogar bei einem schweren Verlauf einen Grad der Behinderung von 20 bis 50 Prozent attestieren lassen kann.
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So reagiert die Barmer auf den Shitstorm
Die Krankenkasse selbst meldete sich ebenfalls in den Kommentaren zu Wort. Es sei nie ihre Absicht gewesen, das Thematisieren von Darmerkrankungen zu tabuisieren und die CED-Community zu kränken. „Wir finden es richtig und wichtig, dass ihr uns auf die Wahrnehmung unseres Posts aufmerksam gemacht habt. Unsere zukünftigen Beiträge werden wir deswegen noch achtsamer prüfen“, heißt es im Kommentar der Kasse.
Deshalb, liebe Barmer: Fehler passieren, ich freue mich über mehr Reflexion und weniger Ableismus. Ihr habt die Möglichkeit, es besser zu machen. Am 19. Mai ist der weltweite Tag der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.
Ursachen, Risikofaktoren Anzeichen und Behandlung der chronischen Darmerkrankung Colitis ulcerosa
Studie zeigt Migräne erhöht das Risiko für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
Studie Durch Training bilden sich im Körper Cannabis-ähnliche Substanzen
Quelle
- 1. Infozentrum für Prävention und Früherkennung. CED: mehr als 400.000 Patienten in Deutschland (aufgerufen am 12. Mai 2023)
- 2. Pasvol, T. J., Horsfall, L., Bloom, S., Segal, A. W., Sabin, C., Field, N., Rait, G. (2020). Incidence and prevalence of inflammatory bowel disease in UK primary care: a population-based cohort study. BMJ open.