27. September 2023, 12:54 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Wer die Wahl zwischen der heimischen und einer öffentlichen Toilette hat, wird das stille Örtchen zu Hause bevorzugen. Wer nutzt schon gerne öffentliche Toiletten? Aber manche Menschen können dort kaum einen Tropfen lassen, Männer häufiger als Frauen. Der Fachbegriff für das Phänomen einer schüchternen Blase nennt sich Paruresis.
Es mag erst mal harmlos klingen, wenn von einer schüchternen Blase die Rede ist, jedoch kann dieses Phänomen Betroffene stark einschränken: Denn diese können in Anwesenheit von anderen Menschen – zum Beispiel auf öffentlichen Toiletten – nicht urinieren. Die Folge: Betroffene planen ihr Leben um ihre Blase herum. Es muss immer eine „sichere“ Toilette in der Nähe sein. Sie planen ihre Erleichterung akribisch oder verzichten auf bestimmte Aktivitäten komplett. Fachleute sprechen dann von Paruresis. Das ist eine Störung, die den Angsterkrankungen zugeordnet wird.
Übersicht
Wer ist betroffen?
Paruresis ist weder besonders bekannt noch wissenschaftlich gut erforscht ist, dennoch ist sie keine seltene Erkrankung: Rund drei Prozent der Bevölkerung sind Schätzungen zufolge betroffen.
Männer sind häufiger betroffen als Frauen
Eva Nadine Striepens, Chefärztin der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster erklärt, dass Männer häufiger als Frauen von einer schüchternen Blase betroffen sind. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Ebenso die Anzahl derer, die das Problem zumindest gelegentlich heimsucht. Knapp ein Drittel der Männer besuche gelegentlich erfolglos eine öffentliche Toilette, so Striepens.
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Was passiert bei einer schüchternen Blase im Körper?
Normalerweise geben Menschen Urin bewusst ab oder halten ihn bewusst ein. Füllt sich die Base, zieht sich der Blasenringmuskel zusammen, bis der Parasympathikus ein Signal sendet, diesen erschlaffen zu lassen.1 Je nach Blasengröße, Stärke des Ringmuskels und der Menge an getrunkener Flüssigkeit muss man unterschiedlich häufig das stille Örtchen aufsuchen. Dabei gelten vier bis sieben Blasenentleerungen über den Tag und bis zu eine in der Nacht als normal.2
Anders ist es bei der schüchternen Blase: Beim Urinieren ist in der Regel der Parasympathikus aktiv, bei Paruresis wird hingegen der Sympathikus aktiviert. Der Körper der Betroffenen bereitet sich auf Angriff oder Flucht vor und weniger wichtige Körperfunktionen, etwa der Harnfluss, werden einstellt.
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Gefangen im Teufelskreis
Die gute Nachricht: Paruresis ist in der Regel behandelbar. Allerdings: „Viele trauen sich nicht, das Problem anzugehen“, erläutert Striepens. Das Schamgefühl überwiegt.
Sich Hilfe zu suchen, ist aber wichtig. Andernfalls droht ein Teufelskreis, wie die Expertin erklärt: „Oft steht am Anfang eine auslösende Situation, zum Beispiel ein doofer Kommentar auf der Toilette.“ Beim nächsten Gang auf eine öffentliche Toilette haben Betroffene dann Angst, dass sich eine solche Situation wiederholt.
Gerade bei Männern kann dieser Stress dazu führen, dass sie tatsächlich nicht urinieren können, weil ihre Harnröhrenmuskeln einfach nicht entspannen können. In der Folge beginnen sie, bestimmte Toiletten zu vermeiden. Dadurch können sie wiederum keine neuen, guten Erfahrungen sammeln – der Teufelskreis schließt sich.
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Einschränkungen im Alltag und psychische Folgen
„In schweren Fällen trauen die Betroffenen sich außerhalb ihrer vier Wände kaum etwas zu trinken“, erklärt die Expertin. Manche betreiben einen großen Aufwand, bevor sie das Haus verlassen. Sie planen, wann und wie viel sie trinken oder überlegen, wann sie spätestens zu Hause sein müssen, um ihre schüchterne Blase zu erleichtern.
Einkaufen könne so zu einer großen Herausforderung werden, Freizeitgestaltung sei kaum möglich, auch am Arbeitsplatz kann Paruresis zum Problem werden. „Manche ziehen sich stark zurück und verlassen das Haus kaum noch“, sagt Striepens.
Oft bleibt es nicht dabei: „Paruresis tritt nicht selten zusammen mit depressiven Verstimmungen oder Alkoholabhängigkeit auf“, ergänzt Benjamin Dickmann. Er ist Verhaltenstherapeut an der psychotherapeutischen Institutsambulanz der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort wurde zu Beginn der 2000er-Jahre zur schüchternen Blase geforscht. In der Ambulanz werden auch betroffene Menschen behandelt.
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Was Sie gegen eine schüchterne Blase tun können
Bei manchen Betroffenen reicht es schon, wenn sie auf einer öffentlichen Toilette etwas mehr Privatsphäre haben. Heißt: Lieber in eine Kabine gehen, als sich an das Pissoir zu stellen.
Diese Ärzte helfen
Was hilft denn nun gegen eine schüchterne Blase? Im ersten Schritt sollte ein Urologe oder eine Urologin körperliche Erkrankungen als Ursachen ausschließen.
Konfrontation mit dem Problem
„Auch wenn es noch Forschungsbedarf gibt, die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bewährt“, sagt Dickmann. Wie genau die Behandlung dabei aussieht, hängt vom Einzelfall ab. In aller Regel erarbeiten Betroffene gemeinsam mit dem Psychotherapeuten, welche Ängste sich hinter der Paruresis verbergen.
Außerdem wird das Vermeidungsverhalten Schritt für Schritt abgebaut. Die Betroffenen müssen sich selbst mit der angstauslösenden Situation konfrontieren. Ein Beispiel: Jemand möchte andere auf einer öffentlichen Toilette nicht warten lassen und kann dort deshalb nicht pinkeln. So jemand würde in der Therapie immer wieder üben, eine Toilette bewusst zu blockieren, um mit dieser Situation wieder besser umgehen zu können.
Übungen wie diese können helfen, die Angst zu verlieren und alte Muster mit der Zeit abzulegen. So erleben Betroffene, dass sie mit der Situation umgehen können – ein gutes Gefühl. Fachleute sprechen von Selbstwirksamkeit.
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Wo Sie Hilfe finden
Wer das Gefühl hat, von Paruresis betroffen zu sein, dem empfiehlt Benjamin Dickmann, eine psychotherapeutische Sprechstunde aufzusuchen.
Diese Sitzungen kann man entweder über die Terminservicestellen unter der Telefonnummer 116117 vereinbaren oder über die Praxen direkt. Sie dienen dazu, zeitnah eine psychotherapeutische Einschätzung zu bekommen und abzuklären, ob ein Behandlungsbedarf besteht. Daneben gibt es verschiedene Foren im Internet zum Austausch für Betroffene – zum Beispiel unter www.paruresis.de.
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Quellen
- 1. Aerzteblatt. Paruresis: Ursachen unbekannt. (aufgerufen am 27.09.2023)
- 2. Stiftung Gesundheitswissen. Wie funktioniert die Harnblase? (aufgerufen am 27.09.2023)
- mit Matrial von dpa