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Entwicklungsstörungen

Forscher identifizieren überraschenden Risikofaktor für Autismus bei Jungen

Ursache Autismus Jungen
Bei Jungen wird häufiger als bei Mädchen Autismus diagnostiziert Foto: Getty Images

14. August 2024, 10:38 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten

Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die nicht heilbar ist und den Alltag zur Herausforderung machen kann. Umso wichtiger ist es, Einflussfaktoren zu erkennen und präventive Maßnahmen zu ergreifen. Eine neue Studie identifizierte einen überraschenden Risikofaktor, der bei Jungen Autismus begünstigen könnte.

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Laut Schätzungen – genaue Zahlen liegen nicht vor – ist weltweit etwa eins von 100 Kindern von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen.1 Die wissenschaftlichen Leitlinien zu Autismus erklären, dass eine Vielzahl von Genanomalien existiert, die von Generation zu Generation vererbt werden und zu der Erkrankung führen können. Weiterhin seien auch spontane Mutationen möglich, die neu entstehen können.2 Eine Studie der australischen Florey-Universität deckte einen weiteren überraschenden Risikofaktor auf, der bei Jungen Autismus begünstigen könne.

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Wissenschaftler nutzten Daten von Geburtskohorten

Als Datengrundlage dienten den Wissenschaftlern Informationen aus zwei großen Geburtskohorten: die Barwon Infant Study (BIS) in Australien und das Columbia Center for Children’s Health and Environment in den USA. Diese wurden zwischen Juni 2010 und Juni 2013 gesammelt und schlossen auch die Zeit vor der Geburt ein. Insgesamt wurden 1074 Mutter-Kind-Paare untersucht.3

Vorab sei gesagt, dass nur für Jungen neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Was mit den Mädchen ist, erfahren Sie an späterer Stelle.

Chemikalien im Urin der Mütter gefunden

Innerhalb der Geburtskohorten gab es 676 Säuglinge, die ausreichend auf frühe Autismus-Symptome getestet wurden, sodass die Wissenschaftler statistische Schlussfolgerungen ziehen konnten.

Urintests der werdenden Mütter zeigten, dass einige von ihnen höhere Konzentrationen des chemischen Stoffes Bisphenol A (BPA) im Urin aufwiesen. Söhne dieser Frauen entwickelten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Autismus.

BPA ist ein häufig verwendeter Kunstzusatzstoff, welcher in vielen Alltagsprodukten wie Schnullern, beschichteten Lebensmittelverpackungen oder in Plastikschüsseln enthalten sein kann. Auch über die Haut kann BPA aus Kosmetika aufgenommen werden. Die Chemikalie kann die Wirkung des weiblichen Sexualhormon Östrogen nachahmen.

Studienautorin erklärt, welcher Mechanismus beteiligt sein könnte

„Einige Studien haben bereits gezeigt, dass die Belastung mit chemischen Kunststoffen während der Schwangerschaft mit späterem Autismus bei den Nachkommen in Zusammenhang steht“, sagte Professor Ponsonby in einer Pressemitteilung.4 Dennoch sind die vorliegenden Studienergebnisse bedeutend, wie sie weiter erklärt: „Unsere Arbeit ist wichtig, weil sie einen der möglicherweise beteiligten biologischen Mechanismen aufzeigt. BPA kann die hormongesteuerte Gehirnentwicklung männlicher Föten auf verschiedene Weise stören, unter anderem durch die Blockierung eines Schlüsselenzyms, der Aromatase, das die Neurohormone steuert und besonders wichtig für die Gehirnentwicklung männlicher Föten ist. Dies scheint Teil des Autismus-Puzzles zu sein.“

Je weniger Aromatase, desto stärker wirkt das BPA

Die Studie warf einen genaueren Blick auf Kinder mit niedrigeren Werten des Enzyms Aromatase, das im Gehirn Testosteron in Neuroöstrogen umwandelt. In beiden Geburtskohorten waren höhere BPA-Werte insgesamt mit einer epigenetischen Unterdrückung (Gen-Umschaltung) des Aromataseenzyms assoziiert.

Der Zusammenhang zwischen dem BPA-Vorkommen im mütterlichen Urin und Autismus der Kinder war besonders deutlich bei dem oberen Fünftel der Jungen, die anfällig für die Hormonsystem-störenden Eigenschaften der Chemikalie waren. Sprich, bei denen mit niedrigeren Konzentrationen des Enzyms Aromatase. Die Wissenschaftler berechneten, dass diese Jungen eine dreieinhalbmal höhere Wahrscheinlichkeit aufwiesen, im Alter von zwei Jahren Autismus zu entwickeln. Außerdem war bei diesen Jungen die Wahrscheinlichkeit um ein Sechsfaches erhöht, eine Autismus-Diagnose bis zum Alter von elf Jahren zu erhalten – im Vergleich zu Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft geringere BPA-Werte aufwiesen.

Biologischer Mechanismus im Mausmodell nachgewiesen

Das Team führte Tests an Labormäusen durch, um herauszufinden, wie BPA die Aktivität der Aromatase beeinträchtigt. Studienautorin Dr. Wah Chin Boon zog aus diesen Versuchen wichtige Erkenntnisse: „Wir haben festgestellt, dass BPA das Aromatase-Enzym unterdrückt und mit anatomischen, neurologischen und Verhaltensänderungen bei den männlichen Mäusen einhergeht, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung übereinstimmen könnten.“

Kann man den Einfluss von BPA verhindern?

Nachdem die Wissenschaftler verstanden hatten, auf welchem Wege das BPA im Körper wirkt, prüften sie, ob dieser Mechanismus nicht auch verhindert werden könnte. Dafür gaben sie den Mäusen eine Fettsäure namens 10-Hydroxy-2-decensäure (10HDA).

10HDA kommt natürlicherweise im Gelée Royale der Honigbienen vor – der Futtersaft für die Königin. Im Gehirn konkurriert 10HDA mit BPA und verhindert, dass die Chemikalie an die Östrogenrezeptoren bindet.

„Bei Verabreichung an Tiere, die pränatal BPA ausgesetzt waren“, so Dr. Boon, „zeigt 10-Hydroxy-2-decensäure erste Anzeichen dafür, dass sie das Potenzial hat, entgegengesetzte biologische Prozesse zu aktivieren.“ Genauer gesagt verbesserte die Zugabe von 10HDA zu BPA-exponierten männlichen Mäusen deren Fähigkeit, mit anderen Mäusen Sozialkontakte zu knüpfen – bei Autismus-Erkrankten ist diese Fähigkeit wenig ausgeprägt. Bei weiblichen Mäusen konnte man diesen Effekt nicht feststellen.

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Und was ist mit den Mädchen?

Tatsächlich waren die Ergebnisse der Studie lediglich für Jungen signifikant – doch was ist mit den Mädchen? An der Studie beteiligt waren sie auch. Doch traten so wenige Autismus-Fälle auf, dass keine Ergebnisse für die weiblichen Teilnehmer berechnet werden konnten. Laut den Studienautoren sind bis zu 80 Prozent der mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostizierten Personen männlich. Allerdings wird seit längerer Zeit kritisiert, dass es bei der Diagnostik einen Gender-Bias geben könne, da sich Autismus bei Mädchen anders äußere. Dies ist ein nicht zufriedenstellendes Dilemma für weibliche Betroffene, welche sich ebenfalls neue Forschungserkenntnisse spezifisch für ihr Geschlecht wünschen.

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Einordnung der Studie

Diese Studie ist die Erste, die den biologischen Mechanismus des Zusammenhangs von Autismus und BPA bei Jungen identifizieren konnte. Zu ihren Stärken gehört ihr vielschichtiger Ansatz mit Menschen und Mäusen. Als Schwäche führen die Autoren auf, dass der BPA-Gehalt im Urin lediglich in der 36. Schwangerschaftswoche gemessen wurde. Dieser Test könne eine geringe Sensitivität aufweisen. Dies konnte aber teils im Nachhinein rechnerisch behoben werden, indem mit kategorischen BPA-Werten gearbeitet wurde.

Die Erkenntnisse der Studie werden zukünftig in Sicherheitsempfehlungen der Behörden zur Belastung mit Industriechemikalien (einschließlich chemischer Kunststoffe) während der Schwangerschaft und im frühen Leben berücksichtigt.

Laut Dr. Boon könne die Fettsäure 10HDA weitere Untersuchungen wert sein. Auch im Hinblick auf potenzielle Behandlungen an Menschen.

Themen Krankheiten Männergesundheit

Quellen

  1. World Health Organization (WHO). Autism. (aufgerufen am 13.08.2024) ↩︎
  2. AWMF Leitlinien Register. S3-Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik. (aufgerufen am 13.08.2024) ↩︎
  3. Symeonides, C., Vacy, K., Thomson, S. et al. (2024). Male autism spectrum disorder is linked to brain aromatase disruption by prenatal BPA in multimodal investigations and 10HDA ameliorates the related mouse phenotype. Nature Communications. ↩︎
  4. University of Melbourne. Florey research finds association between prenatal exposure to plastics and autism in boys. EurekAlert! (aufgerufen am 13.08.2024) ↩︎
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