12. Dezember 2024, 20:12 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Kinderlähmung (Polio) galt in Europa und den USA als ausgerottet. Doch im Sommer 2022 wurden die Erreger erstmals wieder bei einer Abwasseruntersuchung in London nachgewiesen. Im Jahr 2023 war man im US-Bundesstaat New York aufgrund nachgewiesener Polioviren alarmiert. Jetzt wies man die Viren auch in Deutschland nach. Die Gefahr der Polio-Erkrankung ist also keinesfalls vollständig gebannt. FITBOOK-Medizin-Redakteurin Melanie Hoffmann erklärt Ihnen, was Sie über Kinderlähmung wissen sollten – darunter Ursachen, Symptome, Behandlung sowie Impfschutz.
Im Jahr 1994 in Amerika und 2002 in Europa von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ausgerottet erklärt, ist der Erreger also wieder auf beiden Kontinenten nachgewiesen worden.1 Zuletzt auch ihn Deutschland, genauer im Abwasser in den Städten München, Mainz, Köln, Bonn, Düsseldorf, Dresden und Hamburg.2 Das Poliovirus verursacht eine von teils heftigen Symptomen begleitete Krankheit, die als Polio, Poliomyelitis oder auch Kinderlähmung bekannt ist. Auch Erwachsene können sich anstecken. Allerdings machte sich früher die Krankheit samt drohender Folgeschäden aufgrund der hohen Ansteckungsrate meist schon in der Kindheit bemerkbar. Dank Impfstoffen droht dieses Schicksal – zumindest in der westlichen Welt – eigentlich niemandem mehr.
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Übersicht
- Abwasseruntersuchung
- Müssen wir uns Sorgen machen?
- Impfempfehlung der Stiko
- Wie sich Polioviren übertragen
- Wer ist besonders gefährdet?
- Kinderlähmung (Polio) – Symptome und Verlauf
- Behandlungsmöglichkeiten und Krankheitsdauer
- Drohende Folgeschäden
- Berühmter Polio-Fall: Mann lebte 72 Jahre in Eiserner Lunge
- Warum eine Polio-Impfung weiterhin wichtig ist
- Quellen
Abwasseruntersuchung
In Deutschland gibt es eine offizielle Überwachungsstrategie für Polio (Surveillance). Das bedeutet, dass Kliniken bei Hirnhautentzündungen, Gehirnentzündungen und dem Auftreten von akuten schlaffen Lähmungen Patientenproben von spezialisierten Laboren untersuchen lassen sollen.
Seit Mai 2021 wird im Rahmen des Forschungsprojekts „PIA – Polioviren im Abwasser“ das Abwasser an einigen Standorten in Deutschland auf Polioviren untersucht. Bei den Viren, die man so nachweisen kann, handelt es sich um Schluckimpfung-abgeleitete Polioviren, die von in der Nähe lebenden geimpften Menschen ausgeschieden wurden.
Müssen wir uns Sorgen machen?
Dem RKI liegen aktuell keine Meldungen zu Erkrankungsfällen vor. Geimpfte, also immunisierten Menschen, können die nachgewiesenen Erreger nichts anhaben. Bei nicht geimpften Personen können sie in Einzelfällen zur Erkrankung führen.
Impfempfehlung der Stiko
Deswegen betont die Ständige Impfkommission (Stiko) jetzt, dass die Polio-Impfung sicher und wirksam sei und empfiehlt bestehende Impflücken zu schließen. Sie rät zur Überprüfung des Impfstatus insbesondere bei
- Kindern und Jugendlichen
- Erwachsenen ohne vollständige Grundimmunisierung bzw. Auffrischimpfung
- Geflüchteten, die in Gemeinschaftsunterkünften leben
- Personen mit einem beruflichen Risiko, z. B. in Gemeinschaftsunterkünften, in medizinischen Einrichtungen mit engem Kontakt zu Erkrankten sowie in Laboren mit Infektionsrisiko3
Wie sich Polioviren übertragen
Polioviren werden laut Robert-Koch-Institut (RKI) hauptsächlich durch mit menschlichen Fäkalien verunreinigtes Wasser übertragen.4 Daher bergen verschmutztes Trinkwasser und schlechte hygienische Zustände die größten Gefahren. Gelangen die Erreger in den Darm, kann es drei bis 35 Tage dauern, bis die ersten Polio-Symptome auftreten. Während dieser Zeit merken Betroffene nicht, dass sie sich angesteckt haben und können den Erreger durch fehlendes Händewaschen nach dem Toilettengang weitergeben. Und das ist sehr wahrscheinlich, da Polio hochansteckend ist. Schon eine kleine Menge Viren reicht für die Verbreitung. Eine Übertragung durch Husten oder Niesen ist kurz nach der Ansteckung ebenso für eine gewisse Zeit möglich. Grundsätzlich gilt: Solange sich das Virus im Körper befindet, besteht Ansteckungsgefahr.
Wer ist besonders gefährdet?
Zwar können sich auch Erwachsene anstecken, betroffen sind aber vor allem Kinder unter 5 Jahren, weshalb die Erkrankung auch den Namen Kinderlähmung erhielt.
Kinderlähmung (Polio) – Symptome und Verlauf
Tatsächlich kommen die allermeisten Infizierten glimpflich mit Durchfall davon und scheiden darüber das Virus einfach wieder aus. Bei vier bis acht Prozent kommt es zu Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, Halsschmerzen und Muskelschmerzen. Daher werden die ersten Symptome einer Kinderlähmung oft mit der Grippe verwechselt.
Problematisch wird es, wenn es das Virus es schafft, über die Darmwand ins Blut zu gelangen, was bei etwa einem Prozent der Fälle passiert. Dies ermöglicht dem Virus, Hirn und Rückenmark zu befallen. Die Folgen:
- Muskelspasmen
- Nackensteifheit
- Rückenschmerzen
- Lähmungserscheinungen (namensgebend)
- motorische Schwäche von Arm-, Bauch-, Thorax- oder Augenmuskeln (tritt bei Kindern etwas häufiger auf)
Bei nicht ausreichend immunisierten Personen kann Polio zu bleibenden Lähmungen führen.
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Behandlungsmöglichkeiten und Krankheitsdauer
Es gibt weder ein Medikament noch andere spezielle Therapien gegen Polioviren. Bei einer Kinderlähmung bleibt einem nur, die Symptome zu lindern, bspw. mit fiebersenkenden oder schmerzstillenden Mitteln. Meist gelingt es den eigenen Selbstheilungskräften, den Erreger innerhalb von drei bis sechs Wochen vollständig aus dem Körper zu vertreiben. Je nach Verlauf helfen im Anschluss physiotherapeutische und orthopädische Therapien.
Drohende Folgeschäden
Die Lähmungen bilden sich meistens nur teilweise zurück. Betroffene leiden demnach ihr ganzes Leben unter den Folgeerscheinungen. Hat das Virus zudem den Hirnstamm angegriffen, kommt es zu Schäden der zerebralen bzw. vegetativen Nervenzentren, sodass die Signalübertragung zwischen Gehirn und Körper gestört bleibt. Das Postpolio-Syndrom ist besonders tückisch, da es erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Erkrankung in Erscheinung tritt. Dabei handelt es sich um eine chronische Muskelschwäche mit immer stärker werdendem Verlauf.
Berühmter Polio-Fall: Mann lebte 72 Jahre in Eiserner Lunge
Paul Alexander aus dem US-Bundesstaat Texas war mit sechs Jahren an Kinderlähmung erkrankt. Da er seitdem vom Nacken abwärts gelähmt war, war er auf die sogenannte Eiserne Lunge angewiesen. Dabei handelt es sich um ein maschinelles Atemgerät, das damals Tausenden Kindern das Leben rettete. Um 1920 diente es der Beatmung lungenkranker Patienten und funktioniert wie folgt: Der Körper des Patienten liegt bis auf den Kopf komplett im Inneren eines Hohlzylinders. Das Gerät schließt am Hals luftdicht ab und erzeugt einen Unterdruck. Das sorgt dafür, dass Umgebungsdruck Luft durch Nase und Mund des Patienten in die Lungen drückt. Die Ausatmung geschieht durch den Aufbau eines Überdrucks in der Kammer.
Die Einführung der endotrachealen Intubation löste den Gebrauch der Eisernen Lunge ab. Es gab aber Patienten, die lieber bei der ihr vertrauten Behandlung blieben, statt auf die Alternative zu wechseln. So auch Paul Alexander, der zwar durch erlernte Atemtechnik zeitweise außerhalb der Eisernen Lunge leben konnte, zumindest zum Schlafen aber immer zurückkehrte – und das 72 Jahre lang bis zu seinem Tod am 11. März 2024.
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Warum eine Polio-Impfung weiterhin wichtig ist
Auch wenn Kinderlähmung bzw. Polio nicht immer mit heftigen Symptomen einhergehen muss, ist jeder einzelne schlimm verlaufende Fall vermeidbar. Dies war vor dem Jahr 1960 bei jedem 100. Menschen noch nicht der Fall. So ist es einer erfolgreichen Impfkampagne zu verdanken, dass die Kinderlähmung als eingedämmt galt. Experten sorgen sich jedoch über eine zunehmende Impfmüdigkeit, die Coronapandemie könnte diese noch verstärkt haben. Deshalb lautet nun der eindringliche Rat an nicht geimpfte Personen, sich immunisieren zu lassen. Die Impfempfehlung gelte insbesondere für Kinder.
Damit auch die Bevölkerung in Deutschland weiter vor den Polioviren geschützt sind, empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko), die drei ersten Impfungen im Säuglingsalter sowie die Auffrischungsimpfung für Teenager weiterhin einzuhalten.5 Erwachsene, die als Kind nicht ausreichend geimpft worden sind, können dies jederzeit problemlos nachholen.