16. Mai 2024, 11:17 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Der Drang, ungenießbare oder sogar giftige Dinge essen zu müssen, wird von Medizinern als Pica-Syndrom bezeichnet. Ein aktueller medizinischer Fallbericht über einen Mann, der zwanghaft Bauschaum aß, beschreibt die gefährlichen Folgen dieser Essstörung. FITBOOK hat zudem bei einer Verhaltenspsychologin nachgefragt, wie gefährlich die rätselhafte Krankheit wirklich ist.
Ein 45-jähriger Mann aus Südkorea wurde mit starken Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Bei der Untersuchung stellten die Ärzte fest, dass sein Magen gerissen war. Der Grund ist schockierend: Der Patient hatte freiwillig große Mengen Bauschaum geschluckt, wahrscheinlich – so die Vermutung – aufgrund einer Pica-Essstörung. Der Baumstaum hatte sich im Magen weiter ausgedehnt, und zwar so stark, dass die Magenwand schließlich einriss. Den medizinischen Bericht zu diesem Fall haben Mediziner der Kyungpook National University jetzt in der Fachzeitschrift „Clinical Toxicology“ veröffentlicht.1
Übersicht
Verhärteter Bauschaum hatte bereits Form des Magens angenommen
Nachdem klar war, woher die Bauchschmerzen kamen, entschieden sich die Ärzte für eine sofortige Operation. Bauschaum, der vor allem zum Abdichten verwendet wird, hat bekanntlich die Eigenschaft, sich stark auszudehnen und dann zu verhärten. Genau das passierte mit der Substanz in Magen und Speiseröhre des Mannes. Die Masse dehnte sich so stark aus, dass die Magenwand einriss und der Inhalt austrat, was zu den unerträglichen Schmerzen führte. Außerdem wurde eine Schädigung der gesamten Magenwand festgestellt, heißt es in dem Bericht weiter. Schließlich entfernten die Ärzte dem Bericht zufolge mehr als 200 Kubikzentimeter verhärtete Substanz in Form eines inneren Abdrucks des Magens und der Speiseröhre.
Betroffener überlebte wie durch ein Wunder
Bauschaum enthält unter anderem die Chemikalie Methylendiphenyldiisocyanat, die zu Vergiftungserscheinungen führen kann. Zudem kann ein Magenriss schnell tödlich enden. Kommt es zu einer Infektion, folgt nicht selten eine Blutvergiftung. Der betroffene Patient überlebte jedoch und konnte die Klinik nach 14 Tagen wieder verlassen.
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Ärzte vermuten Pica-Syndrom hinter Bauschaum-Verzehr
Die behandelnden Ärzte vermuten, dass ihr Patient deshalb Bauschaum gegessen hat, weil er unter dem sogenannten Pica-Syndrom leidet. Dahinter verbirgt sich eine weitgehend unbekannte Essstörung, bei der die Betroffenen Dinge essen, die keine Lebensmittel sind. Also nicht nahrhafte bis gesundheitsschädliche Stoffe wie Lehm, Erde, Kreide, Zigarettenkippen, Nägel, Plastikteile, Papier oder sogar Fäkalien.
Papier, Lehm, Nägel … Pica-Syndrom – die seltene Störung, bei der Betroffene ungenießbare Dinge essen
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Pica bleibt lange unentdeckt
Schätzungen zufolge sind bis zu 1,7 Prozent der Kinder und 1,3 Prozent der Erwachsenen betroffen. Oft bleibt die Krankheit lange unentdeckt. Besonders ungewöhnliche Fälle finden immer wieder Eingang in medizinische Fachzeitschriften.
Dazu gehört der Fall eines 37-jährigen Bauleiters aus Frankreich, der wochenlang Stücke von Dachziegeln verschluckte.2 Erst als die Bauchschmerzen unerträglich wurden, suchte er eine Klinik auf. Dort stellten die Ärzte eine akute Bleivergiftung fest. Nach einer 20-tägigen Therapie mit Abführmitteln und einer speziellen Schwermetallausleitung normalisierten sich seine Blutwerte wieder. Es stellte sich heraus, dass er seit seiner Kindheit Blei, Kerzenwachs und Plastik gegessen hatte.
Aufsehen erregte auch der Fall einer 17-jährigen jungen Frau aus Äthiopien.3 Sie aß jahrelang den Wandverputz ihres Zimmers, sodass sie im Laufe der Zeit etwa 8 Quadratmeter Lehmwand gegessen hatte. Das Ritual gab ihr ein beruhigendes Gefühl, das stärker war als die Schmerzen und Blähungen, die sie danach verspürte, heißt es in dem Bericht.
„Pica endet oft tödlich“
„Das Pica-Syndrom ist als Essstörung wenig erforscht und es gibt nur wenige Studien mit einer geringen Anzahl an Personen dazu. Dabei ist Pica gar nicht so selten, denn vermutlich ist von 100 Menschen mehr als eine Person betroffen. Für die Wissenschaft ist die Krankheit immer noch ein Rätsel. Bisher gibt es nur Vermutungen darüber, warum Menschen Pica entwickeln. Eine Theorie geht von einer Mangelernährung aus. Also dass ein Nährstoffdefizit vorherrscht, das dann unbewusst durch den Verzehr nicht essbarer Stoffe ausgeglichen werden soll. Aber auch elterliche Vernachlässigung oder Entwicklungsstörungen könnten eine Rolle bei Pica spielen. Bekannt ist, dass die Krankheit in den meisten Fällen in der Kindheit auftritt. Im Erwachsenenalter wird sie eventuell zufällig diagnostiziert, wenn körperliche Auffälligkeiten, z. B. im Magen-Darm-Trakt, festgestellt wurden, da die Betroffenen ihr Essverhalten aus Scham lange verschweigen.“
„Die körperlichen und seelischen Folgen sind oft verheerend. Parasiten, Vergiftungen, Atemprobleme, Infektionen, Blutarmut, Zahnprobleme, Reizdarm und Tod sind beispielsweise bekannte körperliche Komplikationen. Eine Langzeitstudie bei Personen mit geistiger Behinderung zeigte, dass in mehr als einem von zehn Fällen Pica tödlich endete. Glücklicherweise ist die Krankheit gut behandelbar, wenn sie einmal diagnostiziert wurde.“
Dr. Ricarda Schmidt, wissenschaftliche Mitarbeiterin
Forschungsbereich Verhaltensmedizin an der Universität Leipzig mit Spezialisierung auf Ess- und Fütterstörungen