15. November 2023, 17:03 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Es sind womöglich bahnbrechende Erkenntnisse: Bestimmte körperliche Veränderungen während einer Schwangerschaft führen zu einer maßgeblichen Verbesserung des Krankheitsbilds bei Patientinnen mit Multipler Sklerose (MS). Das haben schwedische Forscher in einer aktuellen Untersuchung belegt. Das neu gewonnene Wissen über Schwangere könnte die MS-Behandlung einen großen Schritt weiterbringen.
Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Bei den Betroffenen zerstört das eigene Immunsystem nach und nach die Nervenfasern u. a. im Gehirn und Rückenmark, mit der Folge fortschreitender Bewegungs- und Seheinschränkungen sowie Gleichgewichtsstörungen. Frauen erkranken laut dem Bundesverband Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft dreimal so oft an MS wie Männer. Früher wurde ihnen noch davon abgeraten, Kinder zu bekommen. Doch inzwischen weiß man, dass der Befund für die gesamte Phase der Schwangerschaft nicht bloß kein Risiko darstellt, sondern die Krankheitsaktivität zeitweise sogar senken kann. Forscher der schwedischen Universität Linköping wollten diese Zusammenhänge genauer verstehen. Und offenbar könnten die Erkenntnisse ihrer Untersuchung mit Schwangeren für die Entwicklung neuer MS-Therapien genutzt werden.
Übersicht
Studie mit Schwangeren zu Multipler Sklerose
Das Forscherteam wollte herausfinden, was genau im Körper von Schwangeren passiert. Insbesondere fokussierten sie sich auf die Veränderungen auf immunologischer Ebene. Denn in dieser Hinsicht sei eine Schwangerschaft ein ganz besonderer Zustand: Das Immunsystem hat bekanntlich die Aufgabe, u. a. Fremdkörper abzuwehren, und der Embryo bzw. Fötus besteht immerhin zur Hälfte aus fremder DNA (= der des Erzeugers). Dennoch stößt der Körper der werdenden Mutter das Heranwachsende nicht ab. Ihr Immunsystem hat entsprechend eine höhere Toleranz – und genau das dürfte der Grund dafür sein, dass es MS-Patientinnen im Verlauf einer Schwangerschaft besser geht. So ist es in einer Pressemitteilung der Uni nachzulesen.
Insbesondere im letzten Drittel der Schwangerschaft nimmt demnach bei den MS-Patientinnen die Häufigkeit der Krankheitsschübe um 70 Prozent ab. „Auch einige andere Autoimmunkrankheiten, wie rheumatoide Arthritis, bessern sich vorübergehend während der Schwangerschaft“, heißt es weiter.
Beleuchtung der T-Zellen und genetischer Veränderungen
Die sogenannten T-Zellen sind die Immunzellen, die zuständig sind für die Abwehr von Krankheitserregern und anderen Körpereindringlingen. Sie spielen weiterhin eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Nerven- bzw. Autoimmunkrankheit MS. In dem Zusammenhang berichtete FITBOOK erst kürzlich von neueren Erkenntnissen bezüglich Virusinfektionen, die zu einer T-Zellen-Kreuzreaktivität führen und somit Multiple Sklerose begünstigen können. Den Beitrag finden Sie hier.
Um beurteilen zu können, wie sich die T-Zellen während einer Schwangerschaft verändern, beleuchteten die Forscher auch, welche Gene zu welchem Zeitpunkte während der Schwangerschaft in ihnen aktiv sind. Hierfür nutzten sie eine spezielle, ebenfalls an der Uni entwickelte Untersuchungsmethode namens Netzwerkanalyse.
Immunsystem Gesunder und MS-Kranker verhält sich während Schwangerschaft gleich
Gegenstand der Studie waren die Laborwerte von elf Frauen mit MS-Diagnose und sieben gesunden Frauen. Die Blutentnahmen erfolgten vor, während und nach einer Schwangerschaft. Details zur Untersuchung erschienen kürzlich im „Journal of Neuroinflammation“.
Was bei der Auswertung besonders auffiel: „dass wir keine wirklichen Unterschiede zwischen beiden Gruppen während der Schwangerschaft feststellen konnten“. So äußert sich die an der Studie beteiligte Assistenzprofessorin Sandra Hellberg in der Pressemitteilung der Uni. Diese Erkenntnis deute darauf hin, dass sich das Immunsystem von Schwangeren mit Multipler Sklerose genau so verhält wie das von gesunden Frauen.
Nachdem die messbaren Veränderungen im Bereich der T-Zellen im letzten Trimenon ihren Höhepunkt erreichen, kehrt ihr Zustand nach der Geburt wieder auf Vor-Schwangerschafts-Niveau zurück. Dies ist laut Forscherin Hellberg unbedingt zu betonen.
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Neue Möglichkeiten für die Behandlung von MS
Die Forscher sehen in ihren Studienerkenntnissen die Möglichkeit, die medikamentöse Therapie von Patienten mit Multipler Sklerose zu verbessern. Ebenso könnten die in ihren Untersuchungen gewonnen Einblicke dabei helfen, Untergruppen der Erkrankung zu ermitteln und gezielter behandeln zu können.
Zu den während der Schwangerschaft aktiven Genen gehören, wie die Studie ergab, auch solche, die durch insbesondere das Schwangerschaftshormon Progesteron reguliert werden. Die Forscher experimentieren nun im Labor, um die bei Schwangeren beobachteten Mechanismen zu reproduzieren und daraus neue Behandlungsstrategien entwickeln zu können.