6. Juni 2020, 15:13 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Wissenschaftler und Mediziner, die am Coronavirus forschen, stehen gerade sehr stark im Rampenlicht. Kollegen anderer Fachbereiche (z.B. Krebs oder Diabetes) weniger. Das könnte gefährliche Folgen haben.
Die wissenschaftliche Arbeit zum Coronavirus läuft auf Hochtouren. Innerhalb weniger Monate ist praktisch aus dem Nichts ein riesiger Forschungszweig entstanden, der mit viel Geld vorangetrieben wird. Fieberhaft suchen Wissenschaftler rund um den Globus nach Medikamenten und einem Impfstoff. Und genau darunter könnten andere drängende Probleme in der Medizin, etwa Bluthochdruck, Diabetes und Krebs, und die Forschung daran aus dem Fokus geraten, fürchten Experten.
Grundlagenforschung darf nicht gefährdet werden
Einer von ihnen ist Matthias Tschöp, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz Zentrums München, das ebenfalls zur Forschung am Coronavirus Sars-CoV-2 beiträgt. Er sprach schon Anfang Mai davon, dass bekannte Herausforderungen, die für viele Milliarden Menschen lebensbedrohlich sind oder ihre Lebensqualität deutlich beeinflussen, auch in der jetzigen Situation nicht aus den Augen verloren werden dürften.
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„Die aktive weltweite Zusammenarbeit, um Lösungen aus der Covid-19-Krise zu finden, ist wichtig und gibt Anlass zur Hoffnung. Es wäre jedoch riskant, jahrzehntelange intensive Grundlagenforschung sowie translationale und klinische Forschung an den großen Volkskrankheiten jetzt zu unterbrechen und damit eventuell deren Erfolg zu gefährden“, mahnt Tschöp.
Vor allem chronische Krankheiten rücken in Hintergrund
Damit spricht er insbesondere den Kampf gegen chronische Krankheiten wie Diabetes und Krebs an, die nach wie vor weltweit die Hauptursachen für Tod, Behinderung und Verlust an Lebensqualität sind. Mehr als 400 Millionen Menschen sind weltweit heute an Typ-2-Diabetes erkrankt. Damit zusammenhängende Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nach Angaben des Helmholtz Zentrums die Haupttodesursache in den westlichen Gesellschaften. Bis zum Jahr 2040 werde die Anzahl neuer Krebserkrankungen jährlich von aktuell 18 Millionen auf rund 30 Millionen steigen.
„Was die generelle Forschung betrifft, so hat die gegenwärtige Situation natürlich erhebliche Auswirkungen“, sagt ein Sprecher der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). „Alle unsere Institute sind angewiesen, ihre Mitarbeiter wo immer möglich im Home Office arbeiten zu lassen.“ Forschungsprojekte mit menschlichen Probanden fanden zuletzt gar nicht statt.
Klinische Studien wegen Corona unterbrochen
„Es wird sicherlich Wochen und Monate dauern, den Forschungsbetrieb wieder auf die Vor-Coronazeiten hochzufahren“, sagt der MPG-Sprecher. Bis Mai war es demnach nicht möglich, experimentell im Labor zu arbeiten. Seitdem „wird darüber nachgedacht, wie der Forschungsbetrieb an den Instituten langsam wieder hochgefahren werden kann“. Natürlich ohne die Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gefährden.
Klinische Studien am Menschen lagen in fast allen Bundesländern aufgrund des Coronavirus wochenlang nahezu auf Eis. Mittlerweile sind sie in einigen Bundesländern nun wieder angelaufen, andere ziehen gerade nach, sagt die Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), Britta Siegmund. Allerdings war es „immer eine Nutzen-Risiko-Abwägung“. Patienten, die bereits vor der Corona-Pandemie in Studien eingeschlossen wurden, seien durchgängig in den Studien geblieben und wurden weiter behandelt. „Aber de facto wurden zwischenzeitig keine neue Patienten in nicht-Covid-assoziierte Studien eingeschlossen“, sagt Siegmund.
Dafür gab es mehrere Gründe: Weil die Logistik europaweit nicht funktionierte, könnten Prüfmedikamente und Nachschub ausgehen. Außerdem hätten Untersuchungen im Krankenhaus durchgeführt werden müssen – was man weitestgehend zu vermeiden versuchte.
» Forschungslandschaft muss trotz Corona erhalten bleiben
Probleme entstünden gerade bei großen Studien, die für die Freigabe von Medikamenten relevant seien, sagt Siegmund. „Wenn diese Studien jetzt über mehrere Monate on hold sind, werden sie später abgeschlossen.“ Natürlich verzögere sich so der gesamte Entwicklungs- und auch Zulassungsprozess.
„Ich finde persönlich, wenn man den Betrieb auf 20 Prozent reduzieren muss, dann müssen die Ressourcen auch gerecht verteilt werden – unabhängig von der Forschungsfragestellung“, sagt Christopher Baum, Vorsitzender der AG Wissenschaft des Medizinischen Fakultätentags.
Man könne nicht entscheiden, welche Forschungsfragestellung gesellschaftlich relevanter ist. „Ein Coronavirus-Forscher wäre vor einem Jahr als relativ unwichtig angesehen worden“, sagt Baum. „Und dann kommt es zu einer Ausbruchssituation, und wir sind froh, dass wir Grundlagenforscher haben, die sich seit Jahren mit Coronaviren beschäftigen.“
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Wichtig: „Kollateralschaden“ verhindern
Eben drum gebe es eine Verantwortung, die Forschungslandschaft in ihrer Vielfältigkeit gleichermaßen zu erhalten und unter diesen schwierigen Bedingungen bestmöglich weiterzuentwickeln, sagt Baum. „Vielfältigkeit ist eine Stärke des deutschen Forschungswesens. Das ist ganz wichtig, dass man da jetzt keinen Kollateralschaden hat und die Fragestellung einengt“.