25. März 2024, 20:09 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
In den USA und Deutschland ist das schmerzstillende Mittel Ketamin zur Behandlung bei schwerer Depression zugelassen. Der genaue Wirkmechanismus bedarf noch weiterer Forschung. Eine Studie aus dem Jahr 2022 liefert Hinweise darauf, dass Ketamin die Symptome einer Depression tatsächlich lindern kann.
Anfang der 1960er Jahre wurde synthetisches Ketamin als Narkosemittel entwickelt und kam in der Anästhesie zum Einsatz.1 Als schmerzstillendes Mittel findet es noch heute sowohl bei Menschen als auch bei Tieren Verwendung. Die Anwendung erfolgt zumeist in Form einer Infusionslösung. Man kann es aber auch nasal oder oral einnehmen. Eine medizinisch unerwünschte Nebenwirkung: Ketamin kann Halluzinationen auslösen. Positiv ist dagegen, dass das Mittel einen antidepressiven Effekt zu haben scheint.2 Eine Studie zeigt, wie die Verabreichung von Ketamin innerhalb weniger Wochen bei Menschen mit schwerer Depression wirken kann.
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Übersicht
- Was versteht man unter einer „therapieresistenter Depression“?
- Stufenplan zur Behandlung von Depressionen
- Die Droge Ketamin als Notfallbehandlung
- Kein Vergleich mit einem Drogen-Selbstexperiment
- Drogen sind nicht das Allheilmittel
- Ablauf der Studie
- Ketamin linderte Symptome einer Depression deutlich
- Einschränkung der Studie
- Vorsicht im Umgang mit Ketamin ist geboten
- Weitere Studien belegen
- Quellen
Was versteht man unter einer „therapieresistenter Depression“?
Um darauf eingehen zu können, wie Ketamine in Bezug auf Depressionen wirken, ist es zunächst wichtig zu verstehen, ab wann die Krankheit derartig behandelt werden muss. Oftmals fällt daher im Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin der Begriff „therapieresistent“. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass gegen die Depression nichts mehr unternommen werden kann. Denn von einer therapieresistenten Depression ist in der Medizin bereits die Rede, wenn zwei verschiedene Antidepressiva in ausreichender Dosierung über vier bis sechs Wochen nicht zu einer Besserung geführt haben.
Die gute Nachricht vorab: „Eine Depression – auch wenn sie sich hartnäckig gestaltet – ist eine gut behandelbare Krankheit“, erklärte Prof. Mazda Adli 2023 im Gespräch mit der dpa. Er leitet an der Berliner Charité den Forschungsbereich affektive Störungen.
Was bedeutet „therapieresistent“?
„Es ist ganz wichtig, klarzumachen, dass therapieresistent nicht bedeutet, dass man nicht therapierbar ist, sondern, dass die Krankheit einfach hartnäckig ist“, sagt Mazda Adli. Und ein hartnäckiger Verlauf sei gar nicht selten. Etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten mit Depressionen würde, so Adli, auf zwei Behandlungen mit Medikamenten erst einmal nicht ansprechen.
„Die Patienten, ihre Angehörigen aber auch die Ärzte brauchen dann bei der Behandlung einen langen Atem und viel Geduld.“ Doch: Es gäbe viele Möglichkeiten, Menschen mit einer Depression zu helfen, auch wenn die ersten Medikamente und vielleicht der erste psychotherapeutische Versuch nicht angeschlagen hätten.
Stufenplan zur Behandlung von Depressionen
Falls sich eine Depression durch die bewährten Behandlungsmethoden nicht verbessert, wird mit einem klar geregelten Stufenplan weitergearbeitet und darüber hinausgeblickt, bis es besser wird.
In Leitlinien für die medikamentöse und therapeutische Behandlung von Depressionen ist festgehalten, welche Möglichkeiten es gibt. Dazu gehören etwa eine Elektrokrampftherapie (EKT) oder eine repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS). Bei der EKT wird durch eine kurze elektrische Reizung des Gehirns ein epileptischer Krampfanfall ausgelöst. Bei der rTMS hingegen werden Nervenzellen in einigen Hirnbereichen von außen mithilfe eines Magnetfelds stimuliert.
Beide Methoden der Hirnstimulation sind erprobt. Jedoch liegen bei der rTMS weniger Evidenz vor, also weniger wissenschaftliche Erkenntnisse, dass sie bei einer therapieresistenten Depression helfen kann. Daher wird bislang nur die EKT von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet.
Die Droge Ketamin als Notfallbehandlung
Andrea Jungaberle ist medizinische Leiterin in OVID, der klinischen Partnerorganisation von MIND. Als Notfallmedizinerin und Anästhesistin forscht sie zum Thema Bewusstseinserweiterung – auch bei der Behandlung von Depressionen. Sie betont, dass es wichtig sei, den Patienten mit der Einordnung „therapieresistent“ nicht allein zu lassen und gemeinsam nach weiteren Behandlungsmöglichkeiten zu suchen.
Viele – so auch Jungaberle – sehen neue Hoffnung für die Behandlung von Depressionen in Substanzen, die bisher eher als Drogen bekannt sind.
Dazu gehört etwa Esketamin. Das ist eine Form von Ketamin, das seit Langem als Narkosemittel verwendet wird und als Partydroge „Special K“ bekannt ist. In Deutschland wird diese Droge inzwischen als Nasenspray für die kurzfristige Notfallbehandlung schwerer Depressionen und die Behandlung der therapieresistenten Depression eingesetzt.
Kein Vergleich mit einem Drogen-Selbstexperiment
Prof. Gerhard Gründer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI) leitet eine Studie, in der die antidepressive Wirkung von Psilocybin untersucht wird. Das ist ein Wirkstoff aus halluzinogenen Pilzen. Im ZI und in der Charité Berlin erhalten 144 Patientinnen und Patienten mit behandlungsresistenter Depression unter Aufsicht diese Substanz. Psychotherapeuten bereiten die Probanden auf die Erfahrung vor und arbeiten anschließend das Erlebte in Sitzungen auf.
Gründer betont, dass man eine solche Behandlung nicht mit einem Drogen-Selbstexperiment vergleichen könne: „In Holland sind Psilocybin-haltige Trüffel legal und man kann sie dort im Laden kaufen. Es ist aber keineswegs eine Behandlung, so eine Substanz einmal einzunehmen. Man muss dies in einem Behandlungskontext gut vor- und nachbereiten.“
Ärztliche Aufsicht
Auch Mazda Adli betont, dass es wichtig sei, solche Substanzen unter ärztlicher Aufsicht einzunehmen, da sie zu einer Art Entfremdungserleben führen könnten.
„Einige Menschen erleben dabei dissoziative Erfahrungen. So haben manche nach der Einnahme das Gefühl, dass sie durch den Raum schweben, dass sich Farben ändern oder die Intensität von Geräuschen. Manche finden das auch gar nicht unangenehm, andere schon und manche Menschen merken einfach gar nichts.“
Gründer erklärt, dass es in klinischen Studien zu diesen alternativen Behandlungsmethoden zunächst lediglich um eine mögliche Zulassung gehe. Erst danach würde entschieden, ob die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Behandlung übernehmen.
Drogen sind nicht das Allheilmittel
„Man muss ein bisschen die Euphorie dämpfen“, sagt Gerhard Gründer. „In den Medien werden die Psychedelika – zumindest in manchen Artikeln – als Allheilmittel gepriesen.“ So gebe es bereits jetzt eine Menge Antidepressiva, die verfügbar und wirksam seien. „Aber am Ende sind Psychedelika einfach eine sehr sinnvolle und wahrscheinlich auch aussichtsreiche Ergänzungen unserer Therapiemöglichkeiten.“
Andrea Jungaberle beobachtet, dass Deutschland im internationalen Vergleich mit seiner Forschung sehr spät sei. „In der Schweiz läuft es schon wesentlich länger und auch in Großbritannien, Holland und Tschechien gibt es Studien. Deutschland ist jetzt Gott sei Dank auf den Zug aufgesprungen, aber wir sind circa fünf bis zehn Jahre hinterher.“
Mazda Adli findet ebenfalls, dass es in der Depressionsbehandlung Innovationen brauche. „Wir brauchen Neu- und Weiterentwicklungen bei Antidepressiva. Eine Depression ist eine sehr häufige Erkrankung. Ein bestimmtes Antidepressivum hilft nicht jedem und die Behandelbarkeit gewinnt natürlich mit der Anzahl der zur Verfügung stehenden Optionen.“
Eine Psychotherapie gehöre bei einer hartnäckigen Depression immer dazu. Weiterhin würden Sport, ein ausgeglichener Tag-und-Nacht-Rhythmus und das Erlernen von selbstfürsorglichem Verhalten die Behandlung unterstützen.
Ablauf der Studie
In einer amerikanischen Studie untersuchte man die Wirksamkeit von Ketamin bei Menschen mit schwerer Depression. Die US-Wissenschaftler zogen für ihr Projekt Daten einer Ketamin-Infusionsklinik mit mehreren Standorten heran und werteten diese aus. Sie stammten von 424 Patienten mit therapieresistenter Depression, die sich zwischen 2017 und 2021 mit Ketamin behandeln ließen.
Die Patienten erhielten zur Behandlung Ketamininfusionen mit einer Anfangsdosis von 0,5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht über eine Dauer von 40 Minuten. Innerhalb von 21 Tagen bekamen sie sechs Infusionen verabreicht. Mithilfe eines Fragebogens erfragten die Forscher, welche Veränderungen bei ihren Symptomen die Patienten bzw. Studienprobanden feststellten.3
Ketamin linderte Symptome einer Depression deutlich
Innerhalb der sechs Wochen, in denen Ketamin verabreicht wurde, zeigten sich signifikante Verbesserungen der Symptome. So sprachen 50 Prozent der Patienten grundsätzlich auf die Behandlung an, d. h. ihre Erkrankung hatte sich im Gesamten zurückgebildet (Ansprechrate). 20 Prozent berichteten, dass die Beschwerden nachgelassen hatten (Remissionsrate). Bei einer zehnwöchigen Behandlung betrug die Ansprechrate 73 Prozent, die Remissionsrate 38 Prozent.
Besonders vielversprechend: Ketamin konnte damit in Verbindung gebracht werden, dass sich Selbstverletzungs- und Suizidgedanken innerhalb von sechs Wochen um 50 Prozent reduzierten. Das heißt, bei der Hälfte der Patienten, die zu Beginn der Behandlung an solchen Gedanken litten, war dies nach sechs Infusionen nicht mehr der Fall. Auch bei Angstsymptomen wurde ein Rückgang um 30 Prozent festgestellt.
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Einschränkung der Studie
Die Studie liefert interessante Daten aus der praktischen Anwendung von Ketamin bei schwerer, therapieresistenter Depression. Die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das Mittel in der Behandlung der psychischen Erkrankung seine Berechtigung zu haben scheint. Zugleich weist sie aber auch einige Limitationen auf.
So stützt sich die Auswertung des Effekts der Ketaminbehandlung auf die subjektive Einschätzung der Patienten mithilfe von Fragebögen. Außerdem gab es keine Kontrollgruppe zum Vergleich der Studiengruppe, deren Teilnehmer Klinikpatienten waren, die sich alle freiwillig für die Ketaminbehandlung gemeldet hatten. Auch kurzfristige oder langfristige Nebenwirkungen von Ketamin waren nicht Thema der Untersuchung.
Vorsicht im Umgang mit Ketamin ist geboten
Im Rahmen einer medizinischen Behandlung und verabreicht durch Experten bietet Ketamin einige Vorteile. Nicht zuletzt – wie die Studie unterstreicht – zur Therapie einer Depression. Da das Mittel allerdings mit Nebenwirkungen wie Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen einhergehen kann, sollte man Ketamin nicht ohne medizinische Aufsicht einnehmen. Besonders der Missbrauch als Partydroge bietet Gefahren, da er u. a. zu Bewusstlosigkeit, gefährlich verlangsamter Atmung, kognitiven Beschwerden, Amnesie oder über Wochen andauernde Flashbacks führen kann.4
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Weitere Studien belegen
Wirksamkeit und Sicherheit von Ketamin
Eine weitere Studie wies innerhalb einer vierwöchigen Untersuchung nach, dass ausreichend dosiertes Ketamin für die Behandlung von therapieresistenten Depressionen als wirksam und sicher gilt. 5
Verbesserung der Depression, Angstzustände und Schweregrad der Erkrankung
Eine andere Studie untersuchte 25 Männer mit schweren Depressionen hinsichtlich der Wirkung von der Ketamindosis auf ihre Symptome. Dabei wies man nach, dass Ketamin eine starke und schnelle Wirkung hat, die nach der Verabreichung beobachtbar ist. Bereits nach zwei Wochen und einem Monat nach der letzten Ketamindosis, konnte eine Verbesserung der Angstzustände, der Depression und dem Schweregrad der Erkrankung festgestellt werden.6
Sollten Sie oder jemand aus Ihrem Freundes-/Familienkreis in einer akuten Krise stecken, zögern Sie bitte nicht, sich an eine (anonyme) Hilfe-Stelle zu wenden. Angebote gibt es u. a. beim telefonischen Krisendienst oder bei der Telefonseelsorge unter der Telefonnummer 0800 /1110111.
Quellen
Mit Material von dpa