9. April 2021, 5:32 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Eine definierte Kieferpartie gilt als besonders männlich. Um das Schönheitsideal der perfekten „Jawline“ zu erreichen, werden auf Tiktok und Co. spezielle Tools beworben. Doch ein Experte warnt gegenüber FITBOOK vor Langzeitschäden.
Dem Männermodel Luca Marchesi folgen auf Tiktok mehr als 1,3 Millionen Follower. Bekannt geworden ist der Italiener durch seine ausgeprägte untere Kieferkontur. Seine Jawline habe er nur durch intensives Kiefer-Training mit einem speziellen Tool in Form gebracht, erklärt der Influencer in fast allen seiner Videos.
Eine definierte Jawline nur durch Kiefer-Training?
Marchesi erreicht mit seinen Videos, in denen er ständig das kleine Kiefer-Trainingsgerät bewirbt, viele Nachahmer*innen. Auch Frauen, aber vor allem junge Männer, die sich erhoffen, ähnliche Erfolge zu erzielen. Schließlich gilt eine ausgeprägte Kieferpartie als besonders männlich und stark.
Andererseits erntet Marchesi auch viel Kritik: Oft sieht der Kiefer des Models auf Fotos und in Videos so unnatürlich aus, dass immer wieder die Frage aufgeworfen wird, ob Marchesi nicht mit Photoshop oder einem Filter nachgeholfen hat. Einige Schönheitschirurgen prangerten bereits an, dass das Model sicherlich mit Schönheitseingriffen nachgeholfen habe. Gar nicht abwegig, immerhin gelten Jawline-Filler mittlerweile als beliebter Eingriff zur Gesichtsmodellage – bei Männern wie bei Frauen.
Doch Kritik kommt auch noch von ganz anderer Seite: Auf Tiktok bemängeln mittlerweile einige Zahnärzte das beworbene Tool, denn wer seine Jawline damit versuche zu formen, würde durch das intensive Kiefer-Training alles andere als positive Effekte erzielen.
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Wie soll das Kiefer-Training für die scharfe Jawline-Kontur funktionieren?
Marchesi benutzt ein kleines Silikon-Tool, dass es mittlerweile in verschiedenen Preisklassen im Internet zu kaufen gibt, etwa für wenige Euro auf Amazon. Das Markenprodukt „Jawliner“, das Marchesi bewirbt, kostet hingegen circa 30 Euro.
Versprochen wird, dass schon bei regelmäßigem Training von wenigen Minuten das Wachsen des Kiefermuskels angeregt werde. So sei die Jawline schnell besser definiert. Dafür werden die Tools zwischen die hinteren Backenzähne oder zwischen die Schneidezähne geschoben. Dann wird etwa zwei Minuten langsam darauf gekaut, bis die Kiefermuskeln ermüden. Diesen Vorgang sollen die Anwender*innen mehrmals am Stück wiederholen, jeden zweiten Tag. Mittlerweile gibt es Tausende Kurzvideos von Teenagern, die zeigen, wie sie die vielversprechende Übung selbst ausprobieren.
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Experten warnen vor dem Kiefer-Training
Auf Tiktok äußern sich mittlerweile jedoch einige Zahnärzte zu diesem beliebten Trend-Tool: Etwa Dr. Onkar Mudhar, ein Zahnarzt aus London, der vor einer temporomandibulären Dysfunktion (TMD) warnt. Das sind Beschwerden der Kaumuskulatur und Kiefergelenke. Er erklärt, dass die eckige Gesichtsform Marchesis auf eine Masseterhypertrophie zurückzuführen ist. Damit wird die übermäßige Vergrößerung des oberflächlich gelegenen Kaumuskels, dem Musculus masseter, beschrieben.
Dr. Moritz Boeddinghaus, Fachzahnarzt für Oralchirurgie, der selbst Videos auf Tiktok und Youtube veröffentlicht, erklärt in einem Kurzvideo, wozu der besagte Muskel eigentlich da ist: „Der Kau- und Schließmuskel Musculus masseter, ist dafür zuständig, den Mund zu schließen.“ Wer diesen Muskel, gemessen an seiner Größe immerhin der Stärkste im menschlichen Körper, übermäßig trainiere, könne immer fester zubeißen.
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Jawline-Training vor allem bei Zähneknirschen oder Fehlbiss problematisch
„Vor allem bei Menschen, die eh schon stressbedingt mit den Zähnen knirschen oder einen Fehlbiss haben, kann das Probleme machen“, merkt Boeddinghaus im Gespräch mit FITBOOK an. „Wer stressbedingt nachts mit den Zähnen knirscht, reibt diese durch den immer stärker werdenden Kieferschließmuskel noch mehr ab und vervielfacht zusätzlich die Belastung auf das chronisch überlastete Kiefergelenk.“ Bei einer Fehlstellung würde durch das Kiefer-Training noch stärker auf die Fehlverzahnung aufgebissen werden. Das könne eine Kettenreaktion über die Wirbelsäule auslösen und so zu Verspannungen und Kopfschmerzen führen, erklärt Boeddinghaus weiter.
Wie das Kiefer-Training bei Menschen ohne Vorbelastung wirkt, ist bisher noch nicht erforscht. Der Experte zieht allerdings Parallelen zum häufigen Kaugummi-Kauen. Von dem ist bereits bekannt, dass es Probleme mit dem Kiefergelenk verursachen kann, weil das eigentlich nicht auf ein ständiges Kauen ausgelegt ist. „Es ist wie bei allen Extremsportarten“, sagt Boeddinghaus. „Auch beim Kiefer-Training baut sich die Muskulatur zwar immer weiter auf, aber die Gelenke gehen kaputt, weil sie überbeansprucht werden.“ Er rät deshalb klar von einem Kiefer-Training für eine definierter Jawline ab. Denn auch wenn das Training optisch durchaus ein Effekt haben kann, ist der Preis, den das Kiefergelenk dabei zahlt, zu hoch.