
24. April 2025, 16:39 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Herzinfarkte sind tückisch – nicht nur wegen ihrer Plötzlichkeit, sondern auch, weil sie je nach Tageszeit unterschiedlich verlaufen können. Besonders in den frühen Morgenstunden ist die Gefahr für schwere Verläufe offenbar deutlich erhöht. Doch woran liegt das? Eine neue Studie aus den USA hat erstmals tiefere Einblicke in die biologischen Abläufe hinter diesem Phänomen geliefert – und dabei einen bislang unbekannten Schutzmechanismus im Herzen entdeckt, der vom zirkadianen Rhythmus gesteuert wird.
Wann ein Herzinfarkt auftritt, kann entscheidend dafür sein, wie schwer er verläuft. Zahlreiche klinische Beobachtungen deuten darauf hin, dass Infarkte am frühen Morgen häufiger tödlich enden und größere Schäden am Herzmuskel verursachen. Auch Studien untermauern dies.1,2 Doch die biologischen Gründe dafür waren bislang unklar. Eine jetzt im Fachjournal „Nature“ veröffentlichte Studie eines internationalen Teams der University of Texas geht dieser Frage auf molekularer Ebene nach.3 Die verantwortlichen Wissenschaftler führten auf Grundlage von Beobachtungen an Herzinfarktpatienten Experimente an Mäusen durch. Obwohl Tierstudien in ihrer Übertragbarkeit auf den Menschen eingeschränkt sind, lieferte die Untersuchung interessante Hinweise darauf, dass auf Zellebene ein von der Tageszeit abhängiger Schutzmechanismus im Herzen aktiv ist – mit überraschend konkreten Folgen für Therapie und Prävention von Herzinfarkten.
Übersicht
Warum spielt die Tageszeit für die Schwere eines Herzinfarkts eine Rolle?
Herzinfarkte treten nicht nur plötzlich, sondern auch nicht gleichmäßig über den Tag verteilt auf. Die zuvor erwähnten früheren Studien hatten bereits gezeigt, dass Infarkte, die in den frühen Morgenstunden auftreten, häufig schwerwiegender verlaufen. Doch warum? Dieser Frage ging das Team in der neuen Studie nach – mit einem Fokus auf die Rolle der zirkadianen Rhythmik, also der inneren biologischen Uhr. Das Protein BMAL1– auch bekannt als Transkriptionsfaktor – ist ein zentraler Regulator (Taktgeber) dieser Uhr und beeinflusst zahlreiche Körperfunktionen im Tagesverlauf.
Die Hypothese der Studie: BMAL1 könnte – in Kooperation mit dem Hypoxie-Faktor HIF2A – darüber mitentscheiden, wie stark der Herzmuskel bei einem Infarkt geschädigt wird. Ein Hypoxie-induzierter Faktor, kurz HIF, ist eine Art Sauerstoffsensor. Er wird bei einer Sauerstoffunterversorgung von Zellen aktiv. Im Falle eines Herzinfarkts spielt HIF eine Rolle, weil der Herzmuskel nicht mehr genügend Sauerstoff bekommt.
Studiendesign und Methoden
Um die Rolle dieser Proteine zu verstehen, kombinierten die Wissenschaftler verschiedene Forschungsansätze und -schritte:
1. Sie untersuchten menschliche Herzproben
Die Forscher nutzten Herzmuskelproben von 73 Patienten, die sich einer geplanten Herzoperation unterzogen. Diese Proben wurden zu unterschiedlichen Tageszeiten entnommen – einige morgens, andere nachmittags, jeweils vor und nach dem Eingriff. Die Forscher analysierten dann, welche Gene in diesen Proben zu welcher Zeit aktiv waren, um Unterschiede im Tagesverlauf zu finden.
2. Experimente mit speziellen Mäusen
Ein großer Teil der Forschung wurde mit Mäusen durchgeführt. Das geschah deshalb, weil man bei Mäusen bestimmte Gene gezielt ausschalten kann, um deren Funktion zu testen. Die Forscher nutzten Mäuse, bei denen die Gene für BMAL1, HIF2A oder ein anderes potenzielles Schutzprotein namens AREG speziell in den Herzmuskelzellen ausgeschaltet wurden (sogenannte „Knockout-Mäuse“).
3. Kontrolliert Herzinfarkte bei Mäusen ausgelöst
Bei diesen Mäusen lösten die Wissenschaftler einen kontrollierten Herzinfarkt aus (indem sie die Blutversorgung kurz unterbrachen und dann wiederherstellten, ähnlich wie bei einem echten Infarkt). Das Entscheidende war, dass dies zu zwei bestimmten Zeitpunkten im Tagesrhythmus der Mäuse geschah: einmal zur Mauszeit ZT8 (entspricht dem Nachmittag oder der Lichtphase) und einmal zur Mauszeit ZT20 (entspricht der Nacht oder Dunkelphase). So konnten sie den Einfluss der Uhrzeit direkt untersuchen.
4. Messung von Schäden und Funktion
Nach dem Herzinfarkt untersuchten sie, wie stark der Herzmuskel geschädigt wurde und wie gut das Herz noch pumpte. Dies wurde durch verschiedene Methoden wie spezielle Färbungen des Herzgewebes, Messung von Schädigungsmarkern im Blut und Herz-Ultraschall (Echokardiografie) gemacht.
5. Analyse molekularer Details
Schließlich nutzten die Wissenschaftler sehr feine Techniken wie Mikroskopie, um sich die Zellen genau anzusehen. Auch Methoden, um Proteine nachzuweisen und deren Mengen zu messen, sowie eine Hochleistungs-Mikroskopie, um die genaue 3D-Struktur der beteiligten Moleküle (wie BMAL1 und HIF2A) zu sehen und zu verstehen, wie sie zusammenarbeiten, kamen zum Einsatz.
Ziel all dieser Schritte war, den molekularen Mechanismus zu entschlüsseln, der die tageszeitabhängigen Unterschiede bei Herzschäden nach einem Infarkt erklären könnte.
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Studienergebnisse – die wichtigsten Erkenntnisse
Tatsächlich unterschiedlicher Verlauf von Herzinfarkten je nach Tageszeit
Zuerst bestätigten die Mäuse-Experimente eindrucksvoll, was klinische Beobachtungen nahelegten: Herzinfarkte, die zur Mauszeit ZT8 (Nachmittag) auftraten, führten zu erheblich weniger Herzschaden (bis zu 50 Prozent geringer) als solche zur Mauszeit ZT20 (Nacht).
BMAL1 und HIF2A sind die Schlüssel
Die Forscher fanden heraus, dass dieser zeitabhängige Schutz eng mit der Aktivität von BMAL1 (dem Taktgeber der inneren Uhr) und HIF2A (dem Sauerstoffsensor) zusammenhängt.
Schutzmechanismus zur bestimmten Tageszeit besonders aktiv
Am Nachmittag (ZT8) war ein „Team“ aus BMAL1 und HIF2A im Herzen der Mäuse besonders aktiv und stabil.
Produktion des Schutzproteins (AREG)
Wenn das BMAL1–HIF2A-Team aktiv ist, kurbelt es die Produktion eines speziellen Schutzproteins namens AREG (Amphiregulin) an. AREG schützt die Herzmuskelzellen davor, nach dem Sauerstoffmangel (während des Infarkts) abzusterben.
Beweis durch Gen-Ausschaltung
Als die Forscher bei den Mäusen das Gen für BMAL1 oder HIF2A (nur in den Herzmuskelzellen) ausschalteten, verschwand der tageszeitabhängige Schutz. Egal, wann der Infarkt passierte, der Schaden war immer hoch – so wie bei den unbehandelten Mäusen in der Nacht. Das Gleiche passierte, als die Wissenschaftler das Gen für das Schutzprotein AREG ausschalteten. Auch dann gab es keinen tageszeitabhängigen Unterschied mehr in der Anfälligkeit für Schäden. Das zeigte deutlich, dass diese drei Proteine – BMAL1, HIF2A und AREG – Teil des wichtigen Schutzmechanismus bei Herzinfarkten sind.
Die Studie zeigte auch, dass BMAL1 den Sauerstoffsensor HIF2A stabilisiert, also dafür sorgt, dass HIF2A länger aktiv bleibt. Zusammen binden sie an bestimmte Stellen in der DNA, um das AREG-Gen abzulesen und AREG zu produzieren. Die sehr genaue 3D-Struktur des BMAL1–HIF2A-Komplexes auf der DNA konnte sogar mit spezieller Mikroskopie sichtbar gemacht werden. So konnten die Forscher beobachten, wie die Proteine physisch interagieren und Gene steuern können.
Auch beim Menschen Hinweise gefunden
Auch in den menschlichen Herzproben fanden die Forscher Unterschiede in der Aktivität von BMAL1 und AREG je nach Tageszeit der Entnahme. Labortests mit menschlichen Herzmuskelzellen zeigten ebenfalls, dass Sauerstoffmangel nur zu einer starken AREG-Produktion führte, wenn die innere Uhr der Zellen auf die schützende Zeit eingestellt war.
Medikamente-Test
Schließlich testeten die Wissenschaftler Medikamente, die entweder die Aktivität von BMAL1 steigern (wie Nobiletin) oder HIF2A stabilisieren (wie Vadadustat). Diese Medikamente konnten Herzschäden reduzieren, aber ihre schützende Wirkung war stark von der Tageszeit abhängig, zu der sie gegeben wurden. Dies untermauert einerseits zusätzlich die Bedeutung der Tageszeit und unterstützt zugleich die Idee, dass man den erforschten, natürlichen Schutzmechanismus gezielt verstärken könnte.
Im folgenden Video hat FITBOOK-Experte, Kardiologe Dr. Schneeweis wertvolle Tipps für von Herzkrankheiten Genesene:
Bedeutung der Ergebnisse
Die Studie aus Texas liefert den bislang präzisesten molekularen Beweis dafür, dass die Tageszeit einen messbaren Einfluss auf Schäden durch Herzinfarkte hat. Im Mittelpunkt steht der neu entdeckte BMAL1–HIF2A-Komplex, der den Schweregrad von Herzmuskelverletzungen je nach Uhrzeit reguliert – über das Schutzprotein AREG, das Herzmuskelzellen vor dem Absterben bewahrt.
Die Ergebnisse eröffnen gleich mehrere neue Perspektiven:
Chronotherapie
Medikamente könnten künftig zeitoptimiert verabreicht werden – je nachdem, wann der Schutzmechanismus am aktivsten ist.
Gezieltere Therapien
Die Proteine BMAL1, HIF2A und AREG bieten konkrete Angriffspunkte für neue Behandlungsstrategien gegen ischämische Herzkrankheiten.
Therapiezeitpunkt als Teil der Diagnostik
In der Klinik könnte künftig berücksichtigt werden, wann ein Herzinfarkt auftrat, um Behandlungsstrategien anzupassen.
Vorsorge und Prävention
Chronobiologische Aspekte sollten in Reha-Maßnahmen oder Medikamentenplänen stärker beachtet werden. Die von der Tageszeit abhängenden Mechanismen könnten sich nicht nur auf den Herzinfarkt beschränken. Womöglich spielen sie auch bei anderen Erkrankungen mit Sauerstoffmangel oder Entzündungen eine Rolle – etwa bei Schlaganfall oder Lungenkrankheiten.
Einordnung der Studie und mögliche Einschränkungen
Die Stärke der Untersuchung liegt in ihrer Methodik. Diese ist hochmodern, kombiniert humane und tierexperimentelle Ansätze und untermauert ihre Erkenntnisse durch biochemische, funktionelle und strukturelle Analysen. Besonders bemerkenswert ist die Entschlüsselung der 3D-Struktur des BMAL1–HIF2A–DNA-Komplexes, die erstmals zeigt, wie sich BMAL1 strukturell anpasst, um mit HIF2A zu interagieren.
Dennoch sind einige Einschränkungen zu beachten. So beweist die Studie noch keine direkte Kausalität beim Menschen, sondern zeigt Korrelationen und plausible Mechanismen. Die Zahl der untersuchten Patienten war relativ klein, insbesondere in der Nachmittagsgruppe, was die statistische Aussagekraft begrenzt. Zudem bleiben Fragen offen, etwa ob BMAL1 auch mit anderen Hypoxie-Faktoren wie HIF1A interagiert oder ob andere Proteine, die in ihrer Funktion BLMAL 1 ähnlich sind (z. B. PER2), ebenfalls beteiligt sind. Die Übertragbarkeit auf andere Organe und Erkrankungen ist ebenfalls noch nicht klar. Trotzdem ist die Studie ein bedeutender Meilenstein in der molekularen Kardiologie – und ein Paradebeispiel dafür, wie Chronobiologie künftig Eingang in die Therapie finden könnte.

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Fazit
Fallbeispiele und frühere Studien hatten gezeigt: Ein Herzinfarkt am Morgen ist potenziell gefährlicher als am Nachmittag oder Abend. Diesbezüglich liefert die aktuelle Studie trotz ihrer Einschränkungen eine Reihe bemerkenswerter Erklärungen.
So scheint unsere innere Uhr tatsächlich zu beeinflussen, wie stark das Herz bei einem Infarkt geschädigt wird. Entscheidend dafür ist offenbar der molekulare Taktgeber BMAL1, der gemeinsam mit HIF2A das Schutzprotein AREG aktiviert – allerdings nur zur „richtigen“ Tageszeit, und dieser scheint beim Menschen nicht der Morgen zu sein.
Die Forschung legt damit den Grundstein für neue, zeitoptimierte Therapien bei Herzinfarkt und anderen ischämischen Erkrankungen. Mit Medikamenten könnte man diesen natürlichen Schutz zudem gezielt verstärken – vorausgesetzt, man berücksichtigt die Uhrzeit. Mithilfe weiterer Forschung könnte das Verständnis auf dem Gebiet der Chronotherapie weiter wachsen, bald seinen Weg in die praktische Medizin finden und somit sowohl Prävention als auch Behandlung von Herzinfarkten revolutionieren.