21. Januar 2024, 16:39 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Haben Sie bestimmt schon mal gesehen: Ein Fußballspieler oder Läufer fasst sich ganz plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht hinten an den Oberschenkel. Dieses Bild spricht für eine Verletzung der ischiocruralen Muskulatur, im Volksmund auch als Hamstring bekannt. FITBOOK hat mit einem Orthopäden über mögliche Auslöser, die verschiedenen Arten bzw. Schweregrade und Behandlungswege von Hamstring-Verletzungen gesprochen.
Sogenannte Hamstring-Verletzungen sind vor allem unter Fußballspielern verbreitet. Das belegen Statistiken und war schon mehrfach Thema wissenschaftlicher Untersuchungen. Schwedische Forscher gehen davon aus, dass sich im europäischen Profi-Bereich pro 1000 Stunden Belastung (also beim Mannschafts-Training oder Spiel) acht Hamstring-Verletzungen zugezogen werden.1 Doch auch jenseits des Spielfelds kann es dazu kommen. FITBOOK hat mit Dr. med. Mathias Schettle, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, ausführlich darüber gesprochen.
Übersicht
Was ist der sogenannte Hamstring?
„Hamstrings“ heißt wörtlich aus dem Englischen übersetzt „Schinkenseile“. Der eigentümliche Beiname für die ischiocruralen Muskulatur rühren wohl aus der Besonderheit der am Sitzbeinhöcker (dem „Schinken“) ansetzenden Sehnen.
„Die ischiocrurale Muskulatur verläuft an der Rückseite des Oberschenkels entlang“, erklärt Dr. Schettle, und das – anders als die meisten anderen Muskeln – über gleich zwei Gelenke: die Hüfte und das Knie. Der sogenannte Hamstring ist somit einerseits dafür verantwortlich, das Hüftgelenk zu strecken, und gleichzeitig für das Beugen des Kniegelenks. Diese besondere Konstellation sei sicher ein Punkt, so der Experte, weshalb die Muskulatur verletzungsanfälliger ist als manch andere.
Ursachen und verschiedene Arten von Hamstring-Verletzungen
Hamstring-Verletzungen treten ohne äußeren Einfluss, etwa in Folge eines Tritts durch einen Gegenspieler, auf. Am häufigsten sind sie bei sportlichen Disziplinen, die viele Richtungswechsel, hohe Laufgeschwindigkeiten und/oder Sprünge vorsehen.2 Das gilt neben Ballsportarten wie Fußball und Tennis auch für z. B. Leichtathletik.
Überdehnungen, Zerrungen, Risse
Zu den typischen Verletzungsmustern der Hamstrings gehören laut Dr. Schettle Zerrungen, Überlastungen und Überdehnungen. Dass es dazu kommt, liege meist an einem übermäßigen Dehnen, „etwa wenn ein Fußballspieler einen sehr hohen Ball treffen will und das Bein überstreckt“. Doch auch verschiedenste andere Bewegungen, bei denen die Muskulatur zu stark gedehnt wird, können mögliche Ursachen sein – so auch gewöhnliche z. B. Stolperstürze.
Nicht immer bleibt es bei einer Zerrung – der Kniebeuger kann gänzlich reißen, etwa aufgrund eines ruckartigen und heftigen Ausfallschritts. Das kennt man vor allem vom Wasserski, wenn die Beine in maximaler Spannung weit auseinander driften. „Ein solcher Abriss, eine sogenannte Ruptur, ist eine ausgeprägte Verletzung“, erklärt Dr. Schettle, zu erkennen an Blutergüssen, starken Schmerzen und Funktionsstörungen.
Hamstring-Schmerzen durch ungewohnte Schuhe?
Obwohl Verletzungen des Hamstrings hauptsächlich mit dem Sport in Verbindung gebracht werden, ist so etwas durch eine falsche Belastung oder Ansprache der Muskeln auch im Alltag möglich. So können etwa neue Schuhe, die ungewohnte Bewegungsmuster mit sich bringen, aufgrund einer wiederholten Fehlbelastung des Gewebes Überlastungen verursachen. Aber irgendwann sollte man sich an die neue Absatzform doch gewöhnen – oder? „Nicht unbedingt“, mahnt der Arzt. Trage man die „falschen“ Schuhe weiterhin und über längere Zeiten immer wieder, hat das Gewebe keine Gelegenheit, sich zu erholen. Es drohe eine Chronifizierung der Beschwerden.
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Wichtig ist die Diagnostik
Vor der Therapie muss zunächst geklärt sein, um was für eine Art von Schädigung es sich handelt. Denn auch wenn Hamstring-Verletzungen vermeintlich leicht zu erkennen sind, könnte – außer wohl bei einer Ruptur, die sehr eindeutige Merkmale hat – im Einzelfall auch etwas anderes hinter den plötzlich auftretenden Beschwerden stecken. Dr. Schettle erinnert uns daran, dass vom unteren Rücken über die Beine bis zu den Füßen der Ischiasnerv verläuft. Beispielsweise im Zusammenhang mit einem Bandscheibenvorfall können Ischiasschmerzen auftreten, auch kann sich der Nerv entzünden.
Die Diagnostik beginne für gewöhnlich mit einer Anamnese. Es müssen die konkreten Beschwerden und etwaige Begleiterscheinungen geschildert werden. Bestehen etwa zusätzlich Rückenschmerzen? Seit wann? Nach einer ersten Verdachtsdiagnose kann es nötig sein, diese durch bildgebende Verfahren (per Ultraschalluntersuchung oder MRT) zu sichern.
Möglichkeiten zur Behandlung von Hamstring-Verletzungen
Die Therapie hängt vom Befund ab, betont Dr. Schettle.
Konservative Methoden
Manchmal reiche es, das (über-)belastete Gewebe zu schonen bzw. Sportkarenz einzuhalten. In anderen Fällen wiederum benötigen Betroffene Gehstützen oder einen Kompressionsverband. Eine Physiotherapie sei eigentlich immer sinnvoll.
„Wenn es ein lokales Thema am Muskel ist, kann man speziell bei Sportlern über eine Eigenbluttherapie nachdenken“, sagt der Arzt. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese Behandlung Reparationsprozesse des Gewebes beschleunigt – sozusagen Selbstheilungskräfte – in Gang setzt, wenn es in den Körper zurück injiziert wird.
Operation
Während Teilrisse häufig noch konservativ behandelt werden können, führt bei einem gänzlichen Hamstring-Abriss kein Weg am OP-Tisch vorbei. Ansonsten würden die Funktionsstörungen bestehen bleiben. Der Eingriff sieht so aus, dass die abgelöste Muskulatur mit Fadenankern wieder am Sehnenursprung am Sitzbeinhöcker befestigt wird. Im Nachgang müssen Patienten das reparierte Gewebe für mehrere Wochen schonen bzw. beim vorsichtigen Fortbewegen durch eine Gehstütze schützen. Oft verschreiben Ärzte für den Wiederaufbau eine manuelle Physiotherapie ggf. mit Bewegungsschulung.
Kann man einer Hamstring-Verletzung vorbeugen?
Es gibt Möglichkeiten, den Hamstring zu trainieren und somit zu kräftigen. Das ist sicher sinnvoll – doch Verletzungen in diesem Bereich vermeiden, kann man nach Einschätzung von Dr. Schettle dadurch eher nicht. Denn die üblicherweise von Zerrungen und Rissen Betroffenen – sprich Sportler – sind in der Regel ohnehin gut trainiert. „Stattdessen kommt meiner Ansicht nach dem Dehnen und richtigen Aufwärmen hier eine noch größere Bedeutung zu als bei anderen Muskeln“, erklärt er.